Surreal und sinnlos

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angie99 Avatar

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„Sie ist der Regen des Regenmanns und das Schiff des Schiffmanns. Sie läuft durch die Straßen von New York, ein Weg durch einen Wald aus Feuertreppen.“ (S. 9) - So beginnt Jennifer Clements Roman „Auf der Zunge“.
Die Leserin erhofft sich, dass die fragmentarische Sprache sich irgendwann zu einem Strang verwickeln vermöge, zu einem festen Baumstamm, aus dessen Ästen im Kopf die Gehirnknospen zu blühen beginnen. Doch nichts dergleichen passiert.
Sie irrt wankend vom Rechtsanwalt zum Arzt, zum Dichter, zum Soldaten und zu anderen Gestalten, welchen die Frau auf den Straßen begegnet.
„Der Kerzendreher tritt auf sie zu. ‚Du riechst nach Kerzen, Sabbatkerzen und Geburtstagskerzen‘, sagt er. ‚Wusstest du das?‘ ‚Ich weiß, dass die Stadt von oben aussehen würde wie ein Friedhof‘, sagt die Frau. ‚Die Häuser wären die Grabsteine, Reihe an Reihe.‘“ (S. 84)
Da stehen Buchstaben und sie bilden Sätze. Das S sieht aus wie eine Schlange mit abgeschnittenem Kopf.
Die Sätze sind schön. „Wenn sie den Schrank öffnet, weht ihr ein kalter Luftzug entgegen, von Pullovern, die nicht umarmen können, Mänteln, die nicht marschieren und sie vor dem Feind beschützen können, Hemden mit Ärmeln, die niemals die Ärmel ihrer Blusen berühren. Er besitzt alle möglichen Stoffe, die ihrer beider Haut vor Berührung schützen.“ (S. 13)
Doch die Sätze sind Feuertreppen ohne Stufen. Sie führen ins Nichts.
Die Leere überspült die Nase der Leserin. Sie vermischt sich mit dem Duft von festem Papier, Druckerschwärze und Vanille, dem Schweiß der Autorin, den Zigaretten des Übersetzers, der Seife und des Pausenapfels des Kommissionierers.
Während die Frau in dem Buch über die Grenzen balanciert zwischen Ich und Du, zwischen War und Ist, zwischen Tag und Traum, zwischen Vergessen und Erinnern, fühlt sich die Leserin gefangen zwischen Fiebertraum und gähnender Langeweile.
„Ja, ja, ich habe das Geschirr zerschlagen und mit oranger Kreide an die Wand gemalt, weil bei mir zu Hause aus den Fenstern Türen wurden und aus den Türen Wände. Mein Körper schreit nach Ungehorsam. Es ist wie Wasser trinken oder in der Sonne stehen. Es ist ganz einfach – man will mehr.“ (S. 51)
Die Hände der Leserin schreien danach, das Buch an ihr Hirn zu schlagen, das sich als unzureichend für diese surrealistische, abgehobene Lektüre erweist. Oder an die Wand, die sich teilt, um das Buch segeln zu lassen in eine Welt, die sich keinem normalen Menschen erschließen kann.
Sie will nicht mehr. Sie ist froh, dass der Spuk nach 140 Seiten ein Ende findet.