Aufstieg und Fall von Idolen

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buecherfan.wit Avatar

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In Tom Rachmans neuem Roman “Aufstieg und Fall großer Mächte” steht Tooly (Matilda) Zylberberg, 31, im Mittelpunkt. Sie hat einige Zeit zuvor in einem entlegenen kleinen Ort in Wales in der Nähe der Grenze zu England das World´s End, einen ehemaligen Pub, jetzt ein Antiquariat mit einem Bestand von 10.000 Büchern gekauft, das schon den Vorbesitzern rückläufige Einnahmen beschert hatte. Tooly macht nur noch Verluste und bezahlt Fogg, 28, ihren Angestellten, aus ihren Ersparnissen. Das Aus für den Laden ist abzusehen.

Eines Tages erhält Tooly eine E-Mail von Ex-Freund Duncan in New York, der ihr mitteilt, dass sie sich dringend um ihren alten Vater in Brooklyn kümmern müsse. Tooly fliegt in die USA und findet Humphrey gebrechlich und krank in einem ärmlichen Zimmer in einer heruntergekommenen Gemeinschaftsunterkunft. Der alte Mann hatte sich in ihrer Kindheit und bis zum 21. Lebensjahr liebevoll um sie gekümmert und ihr die Welt der Bücher nahegebracht. Tooly kennt Humphrey als russischen Emigranten mit Gulag-Erfahrung, der nur gebrochen englisch mit starkem Akzent sprach. Tooly wundert sich, dass der russische Akzent völlig verschwunden ist und beschließt, Humphreys Geheimnis zu lüften sowie auch alle anderen Rätsel ihrer Kindheit zu lösen. Da gab es noch die attraktive Sarah mit den vielen Affairen sowie den charismatischen Venn, der die Menschen manipuliert und ausnutzt und dubiosen Geschäften nachgeht. Venn war Toolys Idol. Er brachte ihr bei, sich an nichts und niemand zu binden. Sie sah in ihm ihren Freund und Beschützer und wollte in allem so werden wie er. Und dann war da noch der introvertierte Informatiker und Vogelkundler Paul, der immer für ein Jahr an entlegenen diplomatischen Außenposten arbeitete. Er schien auf der Flucht zu sein und konnte nicht in die USA zurück. Mit ihm kam Tooly von Australien nach Bangkok und lebte bei ihm bis zu ihrem 10. Lebensjahr.

Rachman erzählt Toolys Geschichte auf drei Zeitebenen: 1988 mit Paul in Bangkok, 1999/2000 mit Humphrey in Brooklyn und 2011 in Wales und unterwegs auf den Spuren der Vergangenheit. Die einzige Konstante in der New Yorker Zeit ist der alte Mann. Sarah und Venn erscheinen sporadisch und verschwinden immer wieder unangekündigt für unbestimmte Zeit. Die Menschen, die in Toolys Leben eine Rolle spielen, werden mit ihren Vornamen vorgestellt. Der Leser erfährt lange nicht, wer ihre Eltern sind, und Tooly findet erst bei ihren Recherchen im Jahr 2011 heraus, was damals wirklich geschah und in welchem Umfang die Menschen, die ihr nahestanden, sie belogen haben. Die Wahrheit ist so grausam, dass der Leser sich nur wundert, wie sie ohne Hass und Verbitterung ihrem Leben eine neue Richtung geben kann.

Der Roman behandelt anhand von Toolys Geschichte eine Reihe von Themen: Was wissen wir wirklich über unsere Kindheit? Was bedeutet Familie? Freundschaft und Liebe, Verantwortung, Selbstlosigkeit, aber auch Skrupellosigkeit und Verrat spielen eine Rolle. Der rätselhafte Titel verweist auf weltpolitische Ereignisse vor allem in dem Zeitraum, den der Roman abdeckt: Aufstieg der USA zur Weltmacht und wirtschaftlicher und politischer Niedergang, Völkermord in Ruanda, Kampf gegen den Terrorismus, Kriege in Afghanistan und im Irak, das Amtsenthebungsverfahren gegen Bill Clinton, neue Technologien, Chinas Aufstieg zur Weltmacht, zum größten Gläubiger der USA usw.

"Aufstieg und Fall..."  besticht durch Rachmans sorgfältige Charakterisierung seiner Figuren und liest sich trotz seiner vielen Rätsel und seiner komplizierten Struktur sehr gut. Der Autor macht sich einen Spaß daraus, dem Leser wichtige Informationen lange vorzuenthalten. Er tappt ebenso im Dunkeln wie die Protagonistin. Dadurch wird Spannung aufgebaut. Der Roman ist stellenweise sehr witzig - vor allem in den Dialogen zwischen Tooly und Humphrey. Toolys Geschichte berührt den Leser und wirkt lange nach. Ich empfehle den Roman ohne Einschränkung.