Ein beeindruckender Roman mit Tiefgang

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dieamara Avatar

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Dieser Roman ist nach “Die Unperfekten” der zweite Roman von Tom Rachman. Ich muss zugeben, dass ich das Debüt nicht gelesen habe und deshalb völlig ohne Erwartungen an diesen Roman herangegangen bin. Entsprechend kann ich hier keine Vergleiche ziehen, sondern nur sagen: Ich finde dieses Werk grandios!
Rachman erzählt die Lebensgeschichte von Tooly, einer zu Beginn des Romans Anfangdreißigerin, die an der walisischen Grenze eine kleine Provinzbuchhandlung wenig erfolgreich betreibt. Ihr Alltag ist ruhig und beschaulich, sie wandert gern in der hügeligen Umgebung und verbringt entspannte Tage in ihrer Buchhandlung mit ihrem einzigen und äußerst exzentrischen Angestellten Fogg verbringt. In Rückblenden wird die bisherigen Lebensstationen von Tooly nach und nach enthüllt. Dabei spielt die Handlung immer wieder auf drei Zeitebenen: 1988, 1999 und 2011.
1988 lebt Tooly als 10-jährige bei Paul. Ruhelos ziehen sie von Land zu Land, immer nervös darauf bedacht nicht aufzufallen, nicht ins Visier der Behörden zu geraten. Das Verhältnis der beiden ist distanziert und voller unausgesprochener Regeln. In Bangkok taucht eine Frau auf, die sie auf abenteuerliche Ausflüge mitnimmt und Tooly beginnt sich zu fragen, ob ihr Leben mit Paul wirklich das Richtige ist.
1999 ist Tooly eine junge Frau, lebt bei einem alten, sehr exzentrischen Exilrussen in New York, dessen Wohnung vor alten Büchern und Schriften nur so überquillt. Routiniert schleicht sie sich in fremde Wohnungen ein. Sie behauptet, sie habe früher in dieser Wohnung gewohnt und verwickelt die Bewohner in Gespräche. In einer Studenten-WG lernt sie so einen jungen Juristen kennen und er verliebt sich in sie.
2011 meldet sich schließlich dieser Mann wieder bei ihr und sagt, dass er ihren Vater gefunden habe und dass dieser im Sterben liege. Sie ist überrascht, schließlich hat sie keinen wirklichen Vater und in New York auch nie ein Wort über ihre Familie verloren.

Sehr behutsam und logisch wird Toolys Leben für den Leser entwirrt: Ein mehrfach entführtes, ohne Schulbildung oder richtige Familie aufwachsendes Mädchen, das dank seiner rastlosen wie zwielichtigen Begleiter durch alle Raster fällt und quasi abseits eines normalen Gesellschaftssystems aufwächst. Es ist eine traurige wie auch spannende Angelegenheit, der jungen Frau dabei zuzuschauen, wie sie sich innerhalb der ungewöhnlichen wie unterschiedlichen Einflüsse entwickelt. Sie übernimmt Marotten, Sichtweisen und teilweise illegales Verhalten von den Menschen, die sie umgeben. Sie vergöttert Vrenn, einen raubeinigen, semikriminellen Kerl, der seit den 80ern immer wieder in Toolys Leben auftaucht und wieder verschwindet. Wie kein anderer prägt er ihr Weltbild. Der Exilrusse Humphrey folgt ihr wie ein Schatten, zunächst als eine Art Babysitter, später als intellektueller Begleiter und verlässliche Anlaufstelle. Die geheimnisvolle Frau aus Bangkok taucht ebenfalls immer wieder auf – sucht Vrenn, ihren Liebhaber.
All diese Figuren sind umgeben von einer Tragik und dem Unvermögen eine feste Struktur in ihr und Toolys Leben zu bringen. Das Kind wird immer wieder instrumentalisiert und als Vorwand benutzt, gleichzeitig gibt es niemanden, der sich konsequent genug um sie kümmert und ihr so eine Möglichkeit auf Schule oder ein eigenes soziales Netz gibt. Umso spannender ist es, diese Zeitebenen miteinander in Verbindung zu setzen, zu schauen, was von dem damaligen Kind in der Unternehmerin in Wales zu finden ist, wie es ihr gelungen ist, Fuß zu fassen und ein geordnetes Leben zu leben.
Rachman macht es seinem Leser nicht immer leicht, der Handlung zu folgen, es gibt viele Leerstellen, die man selbst ausfüllen muss. Identitäten und Beweggründe werden erst spät, teilweise gar nicht enthüllt. Dabei sind die Figuren so gut beleuchtet, dass sich vieles logisch ergibt, die psychologische Tiefe ist einzigartig genau. Wenn man diesen Roman beendet, scheint alles irgendwie logisch: Warum Tooly ausgerechnet in einer Buchhandlung gelandet ist, warum sie ihr Leben in einer kleinen beschaulichen Umgebung lebt und wieso all diese Menschen in ihrer Umgebung nie wirklich greifbar waren. Selten habe ich ein Buch gelesen, bei dem ich mich gefragt habe, wie es in dem Leben der Figuren weitergeht – so lebendig und realistisch empfand ich die Charaktere, so intensiv die Geschichte um ein kleines, verlorene Mädchen.

Fazit: Ein ausgezeichneter Roman über die ungewöhnliche Biographie einer jungen Frau, die lernen muss, selbst Wurzeln zu schlagen. Ein beeindruckendes Werk voller psychologischer Tiefe über Außenseiter, Freundschaft, Liebe und was Menschen miteinander verbindet. Eine anspruchsvolle Lektüre, die einen über die letzte Seite hinweg noch eine Weile begleitet.