Schrecklich wunderbar, wunderbar schrecklich

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alasca Avatar

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Tooly, aka Matilda Zylberberg, führt im Jahr 2011 im walisischen Dörfchen Caergenog, wo sie eine Buchhandlung betreibt, ein selbstgenügsames Leben ohne Kontakte außer der seltenen Kundschaft und ihrem einzigen Mitarbeiter Fogg. Bis ihr lange verflossener Freund Duncan sie wissen lässt, ihr Vater sei sehr krank und brauche ihre Hilfe, und Tooly sich fragt: „Ihren Vater? Wen konnte er damit nur meinen?“

Genau das ist die Frage, der der Roman auf drei Zeitebenen nachgeht. Wer ist Paul, mit dem die 10jährige 1988 von Australien nach Bangkok fliegt? Warum bleiben sie überall nur ein Jahr? Und wie kam Tooly zu Humphrey, „nicht praktizierender Marxist“, mit dem sie 1999 in New York zusammenlebt? Wer ist die schöne Mittvierzigerin Sarah, die immer wieder durch Toolys Leben irrlichtert? Und wer war Venn, der ihre Weltsicht und Lebensweise bis in die erzählerische Gegenwart beeinflusst? Keiner dieser Menschen hat anscheinend Wurzeln, eine Wohnung oder Verpflichtungen.

Auf den ersten 180 Seiten war mir der mäandrierende Gang der Geschichte ein wenig zu langsam und vielleicht auch etwas zu gewollt. Aber dann hatte Rachman mich doch am Haken, denn Tooly ist eine zutiefst liebenswerte Heldin. Wie der Autor ihre unkonventionelle Denke als Kind in den Dialogen zwischen dem radebrechenden Humph oder dem autistischen Paul ausdrückt, ist gleichzeitig unwiderstehlich komisch und herzzerreißend, und die Odyssee der erwachsenen Tooly bei der Entschlüsselung ihrer Vergangenheit habe ich mit zunehmender Spannung verfolgt.

Und natürlich sind da die Bücher und ihre Gedankenwelt, die in diesem Buch die heimliche Hauptrolle spielen. Humphrey gibt Tooly Lektüre auf: „Bist du zehn Jahre alt und hast noch nicht gelesen Oswald Spengler? Wie ist das möglich?“ Für Tooly, die in ihrem Leben nur Verrat und Vernachlässigung erfährt, werden Bücher ihre besten Freunde. Jeder Art von Bindung gegenüber ist sie misstrauisch: „Wer sich einer Gruppe anschloss, oder auch nur ein Paar bildete, der verlor an Integrität.“ Wenn nichts anderes einen hält, können Bücher eine Heimat sein – und Rachman liefert die bis jetzt überzeugendste Erklärung für die Sammelwut von Bücherjunkies wie mich: „Die Menschen behielten ihre Bücher (…) nicht, weil sie sie noch einmal lesen wollten, sondern weil die Bücher ihre Vergangenheit enthielten – die Struktur des eigenen Ichs an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, ein Ausschnitt des eigenen Intellekts jeder Band, …“

Was ich auch sehr mochte, obwohl Rachman seine Figuren dafür ein bisschen zu sehr instrumentalisiert, waren seine Reflektionen zur jeweiligen Zeitgeschichte. Er lässt Venn über die Rolle Deutschlands in der europäischen Union reflektieren „Die Grundfrage lautet: Wie steht es um euer soziales Gewissen? Werdet ihr immer weiter für das bezahlen, was eure Großeltern vor 70 Jahren angerichtet haben?“, oder Humphrey über die Planwirtschaft Russlands „Musst du zwei Stunden anstehen und Kohl ist, was du kriegst. Nix gut Land.“ Er hat eine Meinung zum Internet „Anders als bei Büchern gibt es im Internet keine letzte Seite…“ und haut Aphorismen in Serie heraus „Menschen sahen die Welt nicht, wie sie war; sie sahen sie so, wie sie selbst waren.“ Letzteres gilt auch für Tooly: Schritt für Schritt kommt sie ihrer Vergangenheit auf die Spur, und was sie für die Eckpfeiler ihrer instabilen Existenz gehalten hat, bricht weg. Sie muss ihre Sicht korrigieren und neue Perspektiven tun sich auf.

Nicht (nur) vom „Aufstieg und Fall großer Mächte“ handelt dieser Roman. Sondern von dem, was die mehr (oder weniger) normalen Menschen umtreibt. Von Zeit und Vergänglichkeit. Von der Zufälligkeit von Identität. Der Sehnsucht nach Kontinuität. Von Treue, Verrat und der Brüchigkeit von Bindung. Der Undurchschaubarkeit von Menschen. Also vom Schrecklichen, Komischen, Traurigen und Wunderbaren einer menschlichen Existenz.

Trotz kleiner Schwächen herzenswarme fünf Sterne!