World's End

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
marapaya Avatar

Von

Buchtitel und ich sind so eine Sache. Ich habe Lieblingsbücher, da kann ich en detail das Cover beschreiben und weiß bei jedem zweiten auch den Autor dazu. Meist ist mir dann aber der Titel total entfallen und lässt sich aus den Tiefen meines Bewusstseins auch nicht wieder hervorkramen. Bei Büchern, die ich gar nicht mochte, hab ich dafür ad hoc Titel und Autor parat. Kurze Buchtitel merk ich mir ganz gut, lange Titel haben es schwerer von mir gemerkt zu werden. Am schlimmsten zu merken (also eher nie) aber sind die Bücher, deren Titel bei mir eine bestimmte Erwartungshaltung an den Inhalt weckten und sich dann doch ganz anders lasen als gedacht. Ich fürchte „Aufstieg und Fall großer Mächte“ gehört in diese letzte Kategorie. Um an dieser Stelle nicht missverstanden zu werden: Ich mag das Buch von Tom Rachmann. Tooly ist zwar eine etwas anstrengende Romanheldin, aber man muss sie einfach ins Herz schließen. Doch unter dem Titel habe ich mir eben etwas anderes vorgestellt als diese verrückte Geschichte über ein Mädchen, dessen Leben von vielen merkwürdigen Gestalten beeinflusst und manipuliert wurde. Mit Tooly springen wir Leser durch Zeiten und Orte auf der ganzen Welt, begleiten sie ein Stück im Jahr 1988, um den Jahrtausendwechsel und schließlich in der Gegenwart von 2011. Drei Zeiten, drei Leben und ein Buch, welches auf knapp fünfhundert Seiten versucht diese unterschiedlichen Erzählstränge zu einer sinnvollen Geschichte zusammenzubringen. Mit Paul, ihrem Vater, führt sie ein Nomadenleben, jedes Jahr eine neue Stadt auf einem anderen Kontinent. Es ist ein zurückgezogenes, nicht ganz kindgerechtes Leben für die Neunjährige. In Bangkok ändert sich plötzlich alles. Ihre Mutter taucht auf, nimmt sie mit, lässt sie in der Obhut eines alten Russen und verschwindet wieder. Von nun an ist Toolys Leben eng verbunden mit Humphrey, dem alten, intellektuellen Russen; mit Venn, der geheimnisvolle, sporadisch auftauchende düstere Held ihres Daseins; und mit Sarah, ihrer Mutter, die sich immer mal wieder wie manisch an ihre Fersen heftet, um dann für unbestimmte Zeit zu völlig verschwinden. Das Nomadenleben wird zum Selbstzweck, Bildung erfährt Tooly nun nur noch aus Büchern oder auf der Straße. Die „trivialen Menschen“ da draußen sind zum Manipulieren da, Freundschaften und Beziehungen nur vorgetäuscht. Mit einundzwanzig ist dieses Leben plötzlich vorbei und Tooly reist auf sich allein gestellt durch die Welt, lässt sich schließlich in einem kleinen Nest in Wales nieder, kauft eine Buchhandlung und entdeckt das Internet mit seinen sozialen Netzwerken. Auf diese Weise wird sie von Duncan gefunden, der sie über den besorgniserregenden Zustand ihres vermeintlichen Vaters Humphrey informiert und Tooly beginnt erneut durch die Welt zu reisen. Nur will sie dieses Mal der Wahrheit über sich selbst auf die Spur kommen.
Tom Rachmanns Roman lässt mich beeindruckt und auch ein wenig ratlos zurück. Die Figuren, die Dialoge, das Setting machen mich schlicht sprachlos und ich versuche erst gar nicht, mir dazu eine kluge Interpretation aus den Fingern zu saugen. Tooly ist auf der einen Seite so eine kluge, interessante Frau und auf der anderen Seite wirkt sie wie ein junger Hund, der von zu vielen und vor allem den falschen Menschen erzogen wurde. Obwohl alle diese Figuren um sie herum wahnsinnig clever und unabhängig erscheinen, trügt dieses Bild, wurde erschaffen, um ein Mädchen auf einem Weg zu halten, von dem vor allem die anderen profitierten. Und so wurde Toolys Blick auf die Welt lange Zeit davon bestimmt, dass sie eben nur glaubte zu wissen, wer sie ist. Nach knapp drei Jahrzehnten des räumlichen, sozialen wie emotionalen Vagabundentums sucht und findet sie die wirkliche Geschichte über sich.