Leidenschaft oder Obsession?

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"MIr kam nicht mal der flüchtige Gedanke, dass ich eine Wahl hätte, was das Surfen anging. Der Zauber, der mich befallen hatte, würde mich führen, wohin er wollte."


Seit William Finnegan mit elf Jahren zum ersten Mal ein Brett bestiegen hat, ist er dem Surfen verfallen. Es treibt ihn um die ganze Welt, von Welle zu Welle. In seiner Autobiographie stellt er seine Leidenschaft vor, die manchmal schon obsessive Züge trägt. Doch es geht immer auch um die Menschen, die ihn begleiten, um die Freundschaften, die er knüpft, um die Liebe und um die unendliche Größe des Meeres.

Puh, dachte ich im ersten Drittel des Buches, werde ich jemals verstehen, von was Finnegan da redet, wenn er mit Begriffen wie Swell, Reefbreak, Lippe und Kickout um sich schmeißt? Wenn er das Surfen mit einer Präzision beschreibt, die wahrscheinlich jeden Surfer glücklich macht - aber jeden Nichtsurfer vor eine schwere Aufgabe stellt? Der Glossar am Buchende hat zwar geholfen, aber oft fehlt doch das Vorstellungsvermögen, die Erfahrung, um diese Erklärungen in Bilder zu übertragen. Doch oh Wunder - nach diesem ersten Drittel habe ich einfach angefangen zu spüren, was Finnegan spürt. Und auch das ein oder andere Fachgesimpel behalten und enträtseln können. Finnegan nimmt seine LeserInnen geduldig an die Hand, verlangt aber auch Geduld von ihnen. Entlohnt wird man mit einer Perspektive auf das Meer und die Wellen, die das Fassbare übersteigt. Nun weiß ich, wie Wellen funktionieren! Nun weiß ich, dass sich alle Wellen unterscheiden! Selbst Baden im Meer wird nach diesem Buch nie mehr die gleiche Bedeutung haben.

Zur geistigen Entspannung und literarischen Ergötzung lässt Finnegan uns auch an seinem Leben außerhalb des Meeres teilhaben. Wir gehen mit ihm auf hochspannende Weltreise und entdecken menschenleere, unangetastete Spots auf den Fidschis, die später vermarktet werden, tongaische Dörfer und australischen Surferkult. Mit Finnegan bin ich in Ecken der Welt unterwegs gewesen, die ich im echten Leben wahrscheinlich niemals bereisen werde. Beruflich hat er sich über die Jahre hinweg zum Kriegsreporter entwickelt, und so gehen ihm auch in späteren Jahren nie die spannenden Geschichten aus. Wir lernen seine Freundinnen kennen, die Freunde, die seine Lebensabschnitte begleiten und die er so herrausragend charakterisiert wie seine Wellen. All das ist immer eng mit dem Surfen verbunden, von dem er nie loskommt. Ihn begleiten die unterschiedlichsten Emotionen, wenn es ans Surfen geht - Angst, Euphorie, Panik, Ekastase, meditative Ruhe, Liebe, Hass -, und diese stellt er so eindringlich dar, dass man sich fühlt, als würde man mit ihm eine Welle rippen, von einer Monsterwelle unter Wasser gedrückt werden, im eiskalten Wasser bibbern oder menschenleere Spots erkunden. Das muss ein Autor bei einer Nichtsurferin erst einmal schaffen!

Nach dem ersten etwas mühsamen Drittel entwickelt "Barbarentage" einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Es ist ein lehrreiches Buch über ein kaum behandeltes Thema, und außerdem eine kluge Reflexion über das Leben an sich. Die schöne Bebilderung tut ihr Übriges. Absolute Leseempfehlung auch an alle NichtsurferInnen, und ein herzliches Shaka an William Finnegan und die Übersetzerin Tanja Handels, die großartige Arbeit geleistet hat.
Autor: William Finnegan