„Es ist merkwürdig, wie viel Macht über dich du den Menschen gibst, die du liebst.“

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elke seifried Avatar

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„Schon als Kind was mir bewusst gewesen, dass meine Familie zwar wie jede andere in der Stadt in dieselbe Kirche ging, unsere Religion aber nicht dieselbe war. Sie glaubten an Sittsamkeit, wir lebten sie. Sie glaubten an die Macht Gottes zu heilen, wir gaben unsere Verletzungen in Gottes Hand. Sie glaubten an die Vorbereitung auf die Wiederkunft, wir bereiteten uns tagtäglich darauf vor.“ Tara Westover erzählt hier ihr hartes Leben, ihren inneren Kampf sich von der Familie abzunabeln und durch Bildung zu einer selbstbestimmten Frau zu werden. Ein schockierender Tatsachenbericht.

„Jetzt mit neunundzwanzig, setze ich mich zum Schreiben hin, versuche, den Vorfall aus den Echos und Schreien eines müden Gedächtnisses zu rekonstruieren.“. Die Autorin beschreibt hier rückblickend ihre Lebensgeschichte und das tut sie auf sehr ergreifende Art und Weise. Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Im ersten erfährt man als Leser von Taras Kindheit ohne Geburtsurkunde, Arzt oder Schulbesuch in den Bergen Idahos. Der zweite Teil handelt von den Jahren, in denen sie das College besucht, versucht sich von ihrer Familie abzugrenzen und eine Rolle in einem anderen Leben jenseits der Bevormundung durch diese zu spielen, und endet mit einem Auslandsprogramm in Cambridge. Der dritte Teil startet mit einem Gates Stipendium. Sie ist Cambridge Angehörige, darf für ein Semester nach Paris und auch Havard lädt sie ein. Hier bekommt man noch einmal mit aller Wucht den schweren Weg, wirklich mit der Familie brechen zu müssen, um frei leben zu können, hautnah mit. Mit dem Doktortitel und einem kleinen Einblick in die Jahre nach der Promotion endet Taras Geschichte im Jetzt.

„Hast du schon mal überlegt wegzugehen?“ „ Du findest ich soll weg?“ „Ich finde schlimmer als hier kann es nirgends für dich sein.“, genau diesen Rat von Bruder Tyler, wegzugehen, sich nicht länger den Grausamkeiten aussetzen, hätte ich Tara am liebsten ständig entgegen geschrien. Ein Vater der sie in Gottvertrauen jeglicher Gefahr aussetzt, ein gewalttätiger Bruder, bei dem sie aufpassen muss, dass er ihr kein Messer zwischen die Rippen rammt und am besten ständig die Toilettenschüssel geputzt sein sollte, weil er ihr den Kopf hineinsteckt, wie lässt sich so etwas aushalten? Ich hätte sie am liebsten gepackt und aus dieser Hölle gezerrt oder hätte sie später am liebste davon abgehalten, sich wieder auf Treffen einzulassen, die ihr so sehr zusetzen. Ich konnte aber auch ihre Loyalität, ihr Pflichtgefühl der Familie gegenüber nachvollziehen, konnte mich in sie hinein fühlen und denken. „Es ist merkwürdig, wie viel Macht über dich du den Menschen gibst, die du liebst.“ Jahrelange Indoktrination, kein Zulassen einer anderen Wahrheit, als der vom Vater zurechtgebastelten, prägen „Mein Widerstand war nicht rational, er saß tief in mir.“, mich wundert kein bisschen, dass der Abnabelungsprozess so, so schwer für Tara war. Bildreiche Vergleiche wie „Ich redete. Er hörte zu. Und er zog die Scham aus mir heraus wie ein Heiler die Infektion aus einer Wunde.“, oder das freundliche Lächeln, das sie wie eine Eisenmaske getragen hatte, lassen einen das von ihr Erlebte fast selbst fühlen. Allzu zart besaitet darf man beim Lesen hier aber nicht sein, denn wenn Brandwunden den Körper überziehen, die Haut dann zuhause schichtenweise abgetragen wird, wenn Löcher in der Schädeldecke mit den Hausmitteln der Mutter behandelt werden, ist mir oft ein kalter Schauder über den Rücken gelaufen.

„Keine Sorge Liebes, Gott ist hier er arbeitet hier mit uns. Er wird nicht zulassen, dass du verletzt wirst. Und wenn doch, dass ist es Sein Wille.“ Mit diesen Worten lässt ein Vater seine Tochter Schrott auf dem LKW sortieren, während er ein neue Ladung über ihr auskippt, lässt sie sich auch, nachdem es den Bruder erwischt hat und dieser ausfällt, an der Metallschere schinden. Geschockt konnte ich oft gar nicht glauben, was ich las, aber nicht weil ich der Darstellung der Autorin nicht traue. Ich denke bevor sie sich dazu entschlossen hat, sich ihre Geschichte von der Seele zu schreiben, hat sie oft genug verifiziert, ob ihre Erinnerungen der Realität entsprechen, an Stellen, bei denen es mehrere Versionen gibt, ist dies ja auch verzeichnet. Zudem hat sie ja den jahrelangen Prozess eindrücklich beschrieben, dem nicht durch die Familie verzerrten Bild nahe zu kommen. Der innere Zwiespalt, die Ungewissheit, was ist Realität, was geschönte Darstellung, was erdachte Wirklichkeit und was ist Indoktrination, ist mehr als deutlich.

Normalerweise beschreibe ich auch immer die Darstellung der Charaktere, was mir hier, da es sich ja um real immer noch lebende Menschen handelt, ein wenig schwerfällt, ich mich aber auch fast nicht traue, ihr Verhalten zu interpretieren, steht mir eigentlich auch nicht zu. Ich hatte „Vater war kein hochgewachsener Mann, aber er war durchaus fähig den Raum zu beherrschen.“ Alle Beteiligten sind auf jeden Fall derart eindringlich gezeichnet, dass ich stets als lebende Gestalten vor mir hatte, fast gespürt welche Macht, welch Zorn, aber auch welche Angst oder Enttäuschung sie ausgestrahlt haben.

„Mutter hatte immer gesagt, wenn wir wollten, könnten wir zur Schule gehen. Wir müssten nur Dad fragen, sagte sie.“, aber welches Zugeständnis mag dies sein, wenn in den harten Gesichtszügen des Vaters, „meine Neugier zu eine Obszönität machte, einem Affront gegen alles, was er geopfert hatte, um mich großzuziehen.“ Oder schon bei des Bruders Wunsch nach einem Collegebesuch galt. „Mein Sohn „stellt sich in die Schlange um sich von Sozialisten und Illuminatenspionen das Gehirn waschen zu lassen.“ Hatte ich manchmal den Eindruck, ihre Mutter könnte ihr beistehen, hat sie mich stets wieder davon überzeugt, dass die Loyalität ihrem Mann gegenüber größer ist, als ihre Mutterliebe. Froh war ich, dass es aber nicht neben einem äußerst brutalen Bruder, und Geschwistern, die Tara im Notfall auch verraten auch Personen in ihrem Umfeld gibt, die ihr beistehen, wie Bruder Tyler, soweit er kann, Mitbewohnerin Robin, die sich um sie kümmert, bzw. Hilfe vermittelt oder Professoren wie Dr. Kerry, die ihr Potential erkannten und sie förderten.

Ich könnte noch ewig weiter bewegende, schockierende Szenen beschreiben oder auch besonders eindrückliche Stellen zitieren, Taras Lebensgeschichte hat mich von Seite zu Seite mehr gepackt. Auch wenn ich ehrlich zugeben muss, dass ich erst ein Weilchen gebraucht habe um mit der Geschichte warm zu werden, weil ich wohl auch eher mit einer Beschreibung des Lebens als Mormonen im Allgemeineren gerechnet hatte, sind es so für mich noch fünf Sterne geworden.