Nutze und befreie deinen Geist!

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amara5 Avatar

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Die Autobiografie "Befreit - Wie Bildung mir die Welt erschloss" von Tara Westover ist bei Kiepenheuer&Witsch erschienen, ca. 450 Seiten lang und in 40 Kapiteln in drei Teilen aufgegliedert.

Im ersten Teil schildert Tara ihre Kindheit am Buck Peak in Idaho, dem Prinzessinnenberg. Als jüngste von sieben Kindern wächst sie abgeschieden auf, indokriniert von den paranoiden Wahnvorstellungen ihres Vaters - der zwar den Mormonen anhängt und den Glauben als Vorwand hat, in Wirklichkeit aber an einer psychischen Erkrankung leidet und seine eigene fundamentalistische Auslegung des Glaubens hat. Die Kinder müssen harte und gefährliche Arbeit auf dem eigenen Schrottplatz verrichten - "Gott wird es richten" weiß der Vater, wenn tiefe Schnittwunden, Verbrennungen oder offene Köpfe "geheilt" werden müssen. Dann muss die Mutter, eine selbsternannte Hebamme und Heilerin, mit Öl-Tinkturen, Kinesiologie oder Chakren-Richten helfen. Die Mutter hält zum Vater.
Tara ist zuhause nicht nur der psychischen Paranoia und Angstmache ihres Vaters ausgesetzt (Ärzte, Schulen, Ämter - alles Heuchler und Bösewichte; die Welt geht jeden Moment unter; die Illuminaten sind überall), sondern auch der physischen Gewalt ihres ältesten Bruders - ihr Handgelenk wird gebrochen, der Kopf in den Klo gesteckt, sie wird immer wieder als "Hure" beschimpft. In dieser Welt von Gewalt, Manipulation und Unterdrückung lernt sie immer mehr, sich nicht mehr zu fühlen - "weil nichts mich berührte". Sie redet sich die Dinge anders, beschwichtigt die Gewalt um sie herum - doch ihre Tagebuchaufzeichnungen halten die brutale Realität fest. "Ich freue mich darauf ohnmächtig zu werden."
Tara möchte trotz fehlender Schulausbildung ans College, "nach Wissen huren" wie es ihr Vater nennt und besteht den Aufnahmetest im zweiten Anlauf.

Im zweiten Teil ist Tara am College, noch hin- und hergerissen zwischen den Welten - die der Bildung, und die des Aufzwingens von Wahrheiten am Buck Peak. Sie pendelt zwischen diesen, arbeitet weiterhin auf dem Schrottplatz, studiert am College, fühlt sich aber nirgendwo mehr sicher in ihrer Haut und kommt sich ohne Schulbildung vor wie ein Wolf im Schafspelz, geplagt von Scham- und Schuldgefühlen, Komplexen und den eingetrichterten Verhaltensweisen ("Hure", "Gottes Zorn", "Gehirnwäsche" am College ...). "Damals glaubte ich - und etwas in mir wird es immer glauben - , dass die Worte meines Vaters auch die meinen sein sollten." Am College hat sie große Erfolge und erwirbt ein Stipendium - am Buck Peak geht die manipulative Gewalt weiter. Doch die Bildung weckt und formt ihren Geist, sie lehnt sich zuhause immer mehr auf, je mehr sie "gebildet" wird und die paranoide Geisteswelt ihres Vaters und dessen Erzählungen aufdeckt. "Mein Leben wurde mir von anderen erzählt. Ihre Stimmen waren mächtig, empathisch, absolut. Mir war nie in den Sinn gekommen, dass meine Stimme genauso stark wie die ihren sein könnte." Unterstützung in ihrer Welt des Selbstzweifels trotz Erfolgen am College erhält sie von Ihrem Professor: "Der entscheidenste Faktor dessen, wer Sie sind, ist in Ihnen selbst."

Im dritten Teil geht Tara mit Stipendien an Universitäten ins Ausland nach Harvard und Cambridge und formt immer weiter ihren Geist. Sie lernt über Positive Freiheit (Kontrolle über den eigenen Geist auszuüben, frei zu sein von irrationalen Ängsten und Überzeugungen) und bricht, nachdem eine Aussprache mit Bruder und Eltern ausartet - der Bruder ihr Morddrohungen schickt und der Vater ihr den Teufel exorzieren möchte - mit ihrer Familie endgültig ("Mein Vater wollte nicht nur, dass ich einen Dämon abwarf, er wollte, dass ich mich selbst abwarf.") Ein Prozess, der sie zuerst in eine tiefe Sinnkrise und depressive Phase stürzt, bis sie Hilfe zulässt und lernt, sich selbst und ihren Erinnerungen zu vertrauen und sich der "pervertierten Vorstellung von Familienloyalität" entzieht. Der Wandel des Ichs ist zwischen ihr und dem Vater getreten. "Dieses neue Ichsein könnte man vieles nennen. Umwandlung. Metamorphose. Falschheit. Verrat.
Ich nenne es Bildung."

Trotz der erschütternden Handlung zeigt das Buch kein Elend - der Erzählstil ist poetisch, episodisch, anmutig, intelligent und wahnsinnig treibend und spannend! Trotz emotionaler und physischer Misshandlungen zeigt sie nicht mit dem erhobenen Zeigefinger auf ihre Familie und dämonisiert sie, sondern untersucht ihre Kindheit zwar schonungslos und klar - aber mit Neugier und gar Liebe. Ihr gelingt es, die Erzählung perfekt abzustimmen, ihren Weg aufzuzeigen und auf jeder Seite schafft sie eine unfassbare Präsenz und Wahrnehmbarkeit ihrer Person und "Transformation".
Trotz der Besonderheit ihrer Kindheit sind die Fragen Westovers universell und aktuell: Wieviel müssen wir unsere Familie verraten, um erwachsen zu werden? Westover hat durch ihre Ausbildung und erworbenen Selbstbestimmung viel gewonnen, aber auch ihre Familie schmerzhaft verloren.

Die ergreifenden Memoiren "Befreit" wühlen auf, hallen lange nach - und erinnern uns daran, dass Bildung mehr ist als Geschichte, Wissenschaft und Kunst - es bedeutet zu lernen, selbst zu denken!

Absolut lesenswert!

"Nie erzählte Dad mir, was ich tun solle, wenn ich den Berg verließe ..."