Kellermenschen

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nico bardola Avatar

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Gedanken und Gefühle, Ohnmacht und Wut, die in der erzwungenen Isolation entstehen, werden von den Autoren Friedrich Ani und Kevin Brooks ins fast unerträgliche gesteigert.
Der 16-jährige Ich-Erzähler Linus in Kevin Brooks „Bunker Diary“ vertraut nicht auf Wunder. Er setzt seinen wachen Verstand ein, um einen Ausweg aus der High-Tech Big Brother Situation zu finden. In allen Räumen des umgebauten Atom-Bunkers sind Kameras installiert. Aus Düsen können Narkotika versprüht werden. Mehrere Fluchtversuche von Linus scheitern, wodurch seine Mitgefangenen, die neunjährige Jenny und vier ganz unterschiedliche Erwachsene mitbestraft werden. Von wem, ist die große Frage. Mit britischer Coolness spielt Brooks das grausame Szenario eines sadistischen Kidnappers durch, dessen Identität bis zuletzt unklar bleibt. „ER“, das Böse schlechthin, hat offenbar wahllos seine Opfer ausgesucht, um sie zu quälen und zu töten. Alle Fragen nach dem Warum für die Folter im Bunker werden nie aufgelöst.
Friedrich Anis „Die unterirdische Sonne“ geht von einem realistischen Szenario aus: „Jedes Jahr“, sagt eine Reporterin im Roman, „verschwinden etwa einhunderttausend Menschen in Deutschland. Auch wenn die meisten von ihnen nach kurzer Zeit wieder zurückkehren, so löst ihre Abwesenheit oft Panik, Angst und Verzweiflung in den Familien aus, erst recht, wenn es sich um ein Kind handelt. Zurzeit gelten in Deutschland fünfhundertzwanzig Kinder bis dreizehn Jahren als unauffindbar.“ Fünf Kinder werden im Roman entführt und auf einer Insel in einem Keller gefangen gehalten. Immer wieder wird eines der Kinder geholt. Oben widerfährt ihm Gewalt. Zurück bei den anderen finden die Kinder keine Worte für die Demütigungen und die Qualen.
Die Kinder wissen nicht, warum sie misshandelt werden und von wem. Wer spricht, stirbt, so lautet der Befehl von oben. Ein weiterer Junge, Noha, der früher schon missbraucht wurde, kommt hinzu und verändert die Verhältnisse. Die Kinder erzählen sich Geschichten, um zu überleben. Explizite Gewalt kommt kaum vor, erst gegen Ende, als die Kinder sich befreien, wird der Zorn auserzählt. „Die unterirdische Sonne“ ist Drama, Spannungsroman, Thriller, Horrorgeschichte und Liebesgeschichte zugleich. Viel Raum nimmt dabei der Glaube ein, je nach Kind blind oder zynisch: „Je älter Noah geworden war, desto mehr leuchtete ihm die Notwendigkeit eines Glaubens ein. Jeder, den er kannte, offenbarte irgendwann irgendeinen Glauben. Beispiel: Sein Vater. Der glaubte daran, dass sein Sohn im Keller wieder ins Lot kam. Sein Onkel Johann, der Bruder seines Vaters, glaubte an seine Mitgliedschaft im Golfclub, seine Mutter an ihre Weisheit. Und seine Mitgefangenen glaubten garantiert an einen gütigen Gott, der eines Morgens durch die geschlossene Eisentür kam und mit ihnen in die ewige Freiheit entschwebte.“
Die Romane sind sich in wesentlichen Aspekten ähnlich: die unterirdische Gefangenschaft, die nahezu anonymen Entführer, die grausamen Qualen und vor allem die Schilderungen des Alltags ohne Sonne, ohne Zeit. Aber es gibt viele Unterschiede: Friedrich Ani orientiert sich an der Wirklichkeit. Seine Geschichte könnte mit all den Nöten der Entführten und den Motiven der Entführer so geschehen und wird hochemotional erzählt. Kevin Brooks fiktives Tagebuch hingegen folgt einer ausgedachten Versuchsanordnung, die durch die gnadenlose Konsequenz fasziniert, mit der sie bis zu Ende durchgespielt wird. Egal ob eher philosophisch-logisch wie bei Brooks oder literarisch-leidenschaftlich wie bei Ani, beide Texte erinnern an die Fälle Kampusch und Fritzl und versetzen die Leser in Zustände, in denen existentielle Fragen neu gestellt werden.
Friedrich Ani: Die unterirdische Sonne. cbt, 336 S.
Kevin Brooks: Bunker Diary. dtv, 300 S.