Glänzende Fassaden und tiefe Abgründe

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„Sie stiegen die Treppe hoch bis zum ersten Absatz. Um im Erdgeschoss zu landen, müssten sie zehn Stufen überwinden. Es war wie eine Mutprobe unter Kindern, die einander herausfordern, höher zu steigen, noch eine Stufe und noch eine. Er nahm ihre Hand. Sie hielt seine fest. Dann sprangen sie.“

POV: Coco Mellors Debüt „Cleopatra and Frankenstein“ erscheint Anfang 2022 und wird – nicht zuletzt durch BookTok – beinahe über Nacht zum Hit. Ein Text über die New Yorker amour fou einer Zwanzigjährigen mit einem doppelt so alten Mann. NEXT! Ich bin nicht interessiert. Da sind andere Geschichten, die mich mehr catchen, die ich dringender lesen möchte – jedenfalls bis ich erfahre, dass Lisa Kögeböhn das Buch ins Deutsche überträgt. Wer ihr schon eine Weile folgt, weiß (oder hat doch mittlerweile gelernt), dass eine gute Übersetzung den Lesespaß vervielfältigt! Hier bin ich neugierig geworden. Pünktlich zum Erscheinen ihrer Übersetzung würde ich nun außerdem selbst in New York sein – wie viele Zeichen des Schicksals brauchte ich noch, um mich endlich für den Titel zu entscheiden?! Ich habe das Buch also kurzerhand mit in den Urlaub genommen und einen schönen sowie markanten NYC-Spot für mein Buchbild gesucht. Gönnt euch heute optisch „Cleopatra und Frankenstein“ vor der Skyline Manhattans und taucht danach auch unbedingt textlich in das Großstadtleben New Yorks ein!

Ein Silvesterabend im Big Apple: Cleo, Mitte zwanzig, britische Kunststudentin, Bohémienne a.k.a. ewig pleite, trifft Frank, Mitte vierzig, Amerikaner, Inhaber einer Werbeagentur und ungleich gesettleter, im Aufzug einer Partylocation. Die beiden kennen sich nicht, kommen aber ins Gespräch – und danach nicht mehr voneinander los. Es ist die vielbeschworene Liebe auf den ersten Blick. Und weiter können die beiden auch nicht sehen, als sie überstürzt heiraten und danach einfach trotzdem nicht so richtig glücklich sind. Sie können nicht wirklich miteinander, aber auch nicht so richtig ohneeinander. Alles ist kompliziert, verstrickt und verwoben – wie könnten sie diese Situation entwirren, die Verbindung lösen? Und wollen sie das überhaupt?

Etwas oberflächlich und beinahe trivial kommt der Plot in „Cleopatra und Frankenstein“ daher: eine kitschig-toxische Liebesgeschichte mit unspektakulären Charakteren. Trotzdem ist Coco Mellors Debüt ein absoluter Pageturner und garantiert – vor allem aufgrund der fantastischen Übersetzung von @koegeboehnsche – auf 512 Seiten eine mitreißend-kurzweilige Unterhaltung. Die Sprache ist so fließend, dass sie Lesende regelrecht durchs Buch trägt, die Dialoge sind knackig und witzig. Aber mein Herz schlug vor allem für das New-York-Setting! Denn „die Stadt, die niemals schläft“ ist hier nicht nur ein dröger Schauplatz der Handlung, sondern unbedingter Bestandteil ebendieser. Wie sich Cleo, Frank und Co. durch die City bewegen, beschreibt Mellors so detailliert, dass Lesende im Yellow Cab dabei sind und das Glitzern der Lichter in den Wolkenkratzern beinahe selbst sehen können. Nach meinen eigenen Erfahrungen in der Metropole konnte ich das Geschriebene besonders genießen, mich zurückversetzen in einen unvergesslichen Urlaub, in dem „Cleopatra und Frankenstein“ für immer eine Rolle spielen wird (nicht zuletzt, weil ich das Buch bei 38 Grad Celsius 12 Stunden lang im Rucksack rumgetragen habe!) – und genau deswegen bekommt dieser charakteristische Roman von mir trotz kleiner Kritik eine große Leseempfehlung: Gönnt euch glänzende Fassaden und tiefe Abgründe – nicht nur von den Skyscrapern!