Ein etwas anderer Krimi

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Ich bin kein Liebhaber der Kriminalliteratur, das kann man gewiss nicht behaupten, insbesondere die englischen Klassiker von Agatha Christie und Edgar Wallace haben mit ihrer staubtrockenen Erzählweise, ihrem teils überladenen Verdächtigenkreis und ihrem zähen Frage-Antwort-Spiel bei ellenlangen Befragungen schon mehrfach zu Tode gelangweilt. Auch die moderne Kriminalliteratur verfällt zum Großteil in dieselben ausgelutschten Muster, bei denen die einzige Innovation darin besteht, dass ca. alle fünfzig oder wenigstens alle hundert Seiten die nächste Leiche auftaucht. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, weshalb dieses Genre noch immer so viel Anklang bei der Leserschaft findet, denn irgendetwas Neues lässt sich hier vergebens erhoffen. Jedenfalls mag dies zutreffen, wenn man dein Augenmerk lediglich auf die westliche kriminalistische Erzähltradition richtet. Doch längst haben andere Kulturkreise dieses Genre für sich entdeckt – ich las bereits den einen oder anderen lateinamerikanischen Roman, der sich dieses altbekannte Konzept zunutze machte, um in einer auf Spannung ausgelegten Handlung anspruchsvollere Themen, beispielsweise gesellschaftliche Missstände, einfließen zu lassen und sie auf diese Weise einer breiten gemeinhin eher trivialen Leserschaft geschickt unterzujubeln. Sicherlich keine schlechte Idee. Ich mag es, wenn mit den Genres gespielt wird, ein Autor munter experimentiert, daher hielt ich Ausschau nach weiteren solcher Werken. So stieß ich auf den japanischen Kriminalautor Seishi Yokomizo, dem in seinem Heimatland große Anerkennung für sein umfangreiches Werk zuteilwurde. Er erfand die etwas schrullige Detektivfigur Kosuke Kindaishi, der er sage und schreibe siebenundsiebzig Bande widmete, eine Produktivität, die sicherlich nur von wenigen Schriftstellern übertroffen werden kann. Unter quantitativen Gesichtspunkten löste Maigret, die berühmte Ermittlergestalt George Simenons, sicherlich einer der berühmtesten Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts, beinahe doppelt so viele Fälle, allerdings mit weitaus geringerem Umfang. Darüber hinaus wirkt der Schreibstil des Japaners, wenngleich ebenfalls sehr simpel gehalten, in der Übersetzung weitaus geschliffener als der des Belgiers.
»Das Grab der acht Gräber« ist der dritte Teil dieser Reihe, der nun in deutscher Sprache vorliegt, und er beginnt ganz anders, als man es von einem Kriminalroman vielleicht erwarten würde. So überfällt der Autor den Leser nicht gleich mit der ersten Leiche, er setzt nicht einmal an einem besonders spannenden Punkt in die Handlung ein, sondern nimmt sich erst einmal rund zwanzig Seiten die Zeit für eine ausführliche Einführung, die in die Zeit der Samurai zurückreicht und die Vorgeschichte zu den Geschehnissen in der Gegenwart erzählt. Auf dem Dorf der acht Gräber liegt nämlich eine blutige Legende, die Rede ist sogar von einem schrecklichen Fluch, der auf den Bewohnern lastet, die im 16. Jahrhundert acht Samurai-Krieger, die dort Zuflucht gesucht und einen Schatz versteckt hatten, aus Habgier ermordeten. Dieser Fluch wirft seinen Schatten bis in die Gegenwart, will heißen: in die Mitte des 20. Jahrhunderts, in der die eigentliche Geschichte dieses Romans ins Rollen kommt, und zwar mit der Ankunft eines mysteriösen jungen Mannes namens Tatsuya, der auf besondere Weise mit einer weiteren Bluttat, die in der jüngeren Vergangenheit aufgrund dieses jahrhundertealten Fluches in der Gegend begangen worden ist, im Zusammenhang steht. Geradewegs gerät er in einen gefährlichen Strudel des Aberglaubens und des Misstrauens, der ihm von sämtlichen Bewohnern entgegenschlägt und ihn mehr und mehr gefangen nimmt, und als nacheinander mehrere Morde geschehen, wird er immer weiter hineingezogen in die blutige Legende des alten Dorfes.
Die Handlung ist abwechslungsreich und, das muss man schon zugeben, äußerst süffig. Langeweile kommt, anders als bei so vielen anderen Kriminalromanen, die ich in letzter Zeit gelesen habe, dabei zu keinem Zeitpunkt auf. Das mag unter anderem daran liegen, dass Seishi Yokomizo die Geschichte nicht aus der Sicht des Ermittlers, sondern aus der von Tatsuya, diesem geheimnisvollen Fremden, erzählt, wodurch wir nicht in diese zähe Fährtensuche mit unzähligen Befragungen von Verdächtigen verwickelt werden, die die meisten Romane dieses Genres so ermüdend machen. Die Ermittlungen des Detektivs Kosuke Kindaishi laufen eher nebenbei, ab und an wird der Leser über wesentliche neue Erkenntnisse auf dem Laufenden gehalten, doch ansonsten verfolgen wir Tatsuyas Geschichte, den einige eigenartige Begegnungen und unverhoffte Entdeckungen erwarten. Für mich ist diese Herangehensweise ein klarer Pluspunkt, denn meistens ist bei Krimis die Perspektive eines Verdächtigen, des Mörders oder eines anderweitig Beteiligten ohnehin viel interessanter und spannender als die des Ermittlers. Bisher habe ich die anderen Bände dieser Reihe noch nicht gelesen  – war ich auf jeden Fall nachzuholen gedenke –, daher kann ich nicht sagen, ob der Autor bei jedem Band dieselbe perspektivische Entscheidung getroffen hat. Anhand von Leseproben und dem Überfliegen der Klappentexte würde ich jedoch eher behaupten, dass »Das Dorf der acht Gräber« da wohl die Ausnahme bildet und der Detektiv Kosuke Kindaishi in den anderen Fällen zumindest etwas mehr auf seine Kosten kommt.
Seishi Yokomizo ist mit diesem Kriminalroman wahrlich ein schwungvolles und amüsantes Lesevergnügen gelungen, dass durch eine gehörige Portion Einfallsreichtum besticht. Man bekommt, was man von einem japanischen Autor erwartet – teilweise wird es gar etwas verrückt, ähnlich wie bei den Romanen von Haruki Murakami. Außerdem sind die Charaktere alle sehr schrullig und auf diese Weise sehr sympathisch. Ich habe mich in diesem Roman und in dem Dorf der acht Gräber sehr wohl gefühlt und wäre gerne noch etwas länger darin verblieben. Natürlich ist der Roman nicht ohne Schwächen: Die Auflösung ist eher mau, an einigen Stellen sogar an den Haaren herbeigezogen. »Das Dorf der acht Gräber« ist sicherlich kein besonders »intelligenter« Krimi, der einen besonders hohen Wert auf Logik legt; aber die Originalität und leichte Verrücktheit machen dieses Manko mehr als wett.
Der Roman bietet ausgefallene Unterhaltung für alle enthusiastischen Krimileser, die gerne etwas Abwechslung in das ewige Einerlei dieses Genres bringen möchte, und da die eigentliche Ermittlungsarbeit wie erwähnt eine Nebenrolle einnimmt, werden sich für dieses Buch ebenso jene begeistern können, die an einer literarischen Schnitzeljagd eher weniger interessiert sind. Darüber hinaus verzichtet der Autor vollkommen auf die Schilderung von Gewalt – zartbesaitete können sich somit auf spannende Lesestunden ohne eine anschließende schlaflose Nacht freuen.