Die geheimnisvolle Unbekannte aus dem Wald von Caputh

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Im Wald von Caputh in der Nähe von Berlin finden 1932 zwei Jugendliche eine verletzte Frau. Als die Unbekannte aus der Bewusstlosigkeit erwacht, gibt sie an, sich an nichts mehr erinnern zu können. An der Erinnerungslücke meldet zumindest der Ermittler der Polizei Zweifel an; denn die Frau zeigt nur geringe Spuren körperlicher Verletzungen. Wegen ihrer Wahnvorstellungen wird die Unbekannte in der Psychiatrie der Berliner Charité behandelt. Um die Patientin sorgt sich auffällig der junge Psychiater Martin Kirsch. Einziges Indiz, das die Vergangenheit der Unbekannten enthüllen könnte, ist ein Fetzen Papier, auf dem noch die Ankündigung zu einem Vortrag Albert Einsteins zu erkennen ist. Die Frau, die sich selbst Maria nennt, wird deshalb in der Klinik das Einsteinmädchen genannt.

 

Kirsch ist sich sicher, dass seine neue Patientin keine so eine einfache oder gar mittellose Frau sein kann, wie sein Kollege Brenner annimmt. Kirsch darf nicht zu erkennen geben, dass er die geheimnisvolle Unbekannte schon vorher getroffen hat, wenn er seine zukünftige Karriere und die geplante Ehe mit seiner Verlobten Alma nicht gefährden will. Bereits mit seiner deutlichen Kritik an den Behandlungsmethoden seines Chefarztes hat Martin Kirsch sich in der Klinik in eine Außenseiterposition gebracht. Sington führt seine Leser nun auf den Spuren des jungen Mediziners ins ehemalige Scheunenviertel, in dem „Maria“ gelebt hat, und zugleich in Martins Vergangenheit als Feldarzt im Ersten Weltkrieg. Martins Kriegserlebnisse und seine Auseinandersetzung mit dem Schicksal seines im Krieg vermissten jüngeren Bruders deuten daraufhin, dass der junge Psychiater seinen Patienten näher ist, als er sich selbst eingesteht. Wie Martin, der Mann mit den zwei Gesichtern, mit seiner bürgerlichen Existenz pokert, hat mich sehr viel stärker interessiert und gefesselt als das Schicksal der  geheimnisvollen Unbekannten.

 

Die raffinierte Verschachtelung mehrerer persönlicher Geheimnisse mit Manuskript-Auszügen aus der Feder unterschiedlicher Personen schärft die Aufmerksamkeit für die spannende Geschichte. Mit dem historischen Hintergrund der 30er Jahre und den realen Personen Albert, Milena und Eduard Einstein führt Philip Sington seine Leser kenntnisreich ins Berlin des entstehenden Nationalsozialismus. Mit knappen Hinweisen auf historische Ereignisse (die Bücherverbrennung im Mai 1933 z. B.) wird man angeregt, sich in die einzelnen Personen des Romans hineinzuversetzen und sich zu fragen, wie viel sie damals von den Tagesereignissen erfahren haben. Den Stand des Wissens über psychische Erkrankungen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts verdeutlicht der Autor am Beispiel der Schizophrenie und am Schicksal eines Patienten, der durch Kriegereignisse traumatisiert wurde. Zu Kirschs Zeiten hatte sich die Medizin zwar mit der Suche nach Heilungsmöglichkeiten beschäftigt, aber noch kaum nach den Ursachen psychischer Erkrankungen geforscht. Ein Stellenangebot, das Martin Kirsch erhält, weist auf die gerade entstehende Rassenforschung und ihre Suche nach der Vererblichkeit von „Geisteskrankheiten“ hin.

 

Die sorgfältig formulierten eingeschobenen Manuskripte und Briefe waren für mich neben der raffiniert komponierten Handlung der stärkste Anreiz, das Buch zu lesen. Die geschärfte Aufmerksamkeit, mit der man beim Lesen nach feinen Zwischentönen und kleinsten Indizien aus dem Leben des geheimnisvollen Einsteinmädchen sucht, deckt leider auch flüchtig gearbeitete Passagen des Buches auf. Für die Zeit unpassende Ausdrücke (hat man sich damals in wörtlicher Rede gewünscht, eine Auszeit zu nehmen?) und nicht zu Ende gedachte Beschreibungen von Details unterbrechen an einigen Stellen den Lesefluss. Singtons spannende Geschichte aus dem Umfeld der Familie Einstein empfehle ich allen, die  Freude an Romanen mit ausgezeichnet recherchierter historischer  Kulisse haben.