Es ist nie zu spät, zu sich selbst zu stehen

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elke seifried Avatar

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„Allein auf der heutigen Runde sah er auf Fensterbänken und Kaminsimsen etliche Zeugnisse von Geburten und Todesfällen, von Hochzeiten und Scheidungen. Er entdeckte Anzeichen für neue Jobs und Studienplätze genauso wie Hinweise darauf, dass jemand Schulden oder Gesundheitsprobleme hatte. Die amtlichen Schreiben, Rechnungen, privaten Karten oder Briefe, die er zustellte, boten Einblicke in fremde Leben– und manchmal erlaubte er sich, Geschichten zu der Post zu erfinden, Geschichten, von denen er wusste, dass er sie selbst nie erleben würde.“ Albert ist Postbote aus Leidenschaft und seine kleine Welt besteht eigentlich nur aus seiner Arbeit und seiner Katze Majorie, da gilt, „Gleichzeitig war er darauf bedacht, jeglichen Kontakt zu Menschen so oberflächlich wie möglich zu halten. Er winkte durchs Fenster denjenigen zu, die nicht bei der Arbeit waren, und grüßte höflich, wenn er klingeln musste, weil er ein Paket zu übergeben hatte oder eine Unterschrift erforderlich war. Allerdings legte er ein solches Tempo vor, dass die Empfänger glauben mussten, er hätte keine Zeit für ein Schwätzchen.“. Deshalb fällt für ihn eine Welt ein, als er die Ankündigung erhält, dass er in drei Monaten in Rente gehen muss. „Das durfte nicht wahr sein! Ich kann doch nicht aufhören zu arbeiten. Wer bin ich denn noch, wenn ich kein Postbote mehr bin?“. Als dann kurz nach Weihnachten auch noch Majorie eingeschläfert werden muss, ist der Punkt erreicht, an dem er erkennt, dass er an seinem Leben etwas ändern muss, denn „Kaum war Albert zu Hause, erkannte er, dass er ganz und gar nicht klarkommen würde.“

Als Leser darf man im Verlauf des Romans erfahren, warum Albert sich zu einem solch verschlossenen, menschenscheuen Kauz entwickeln musste, warum er seine erste große Liebe nicht leben konnte und sich mit ihm nach dieser auf die Suche machen. Gleichzeitig darf man mit ihm Freundschaften knüpfen, bei der zu Nicole ebenfalls für diese und ihr Lebensglück mitfiebern und auch bei denen zu anderen so einiges erleben.

»Deine Eltern glauben, ich bin nicht gut genug für dich, weil ich alleinerziehende Mutter bin, auf eine Sozialwohnung angewiesen bin und Unterstützung kriege. Deine Eltern sind Snobs, Jamie.«, »Amir ist mein Enkel«, sagte Mina. »Er möchte gern ein Mädchen sein, deshalb darf er sich zu Hause verkleiden.« »In der Schule hat er ziemliche Probleme« oder auch, »… hier gibt’s ziemlich viele Pakis heutzutage– und es werden immer mehr. Ehrlich, wie ein riesiger Ölteppich, der sich über die ganze Stadt ausbreitet.« Albert riss die Augen auf und öffnete schon den Mund, um zu protestieren. »Nicht, dass Sie denken, ich bin Rassist«, fuhr der Mann fort, noch bevor Albert ein Wort sagen konnte. »Aber man kann doch nicht leugnen, dass diese Leute nicht so sind wie wir.« Gut hat mir gefallen, wie sich der Autor mit seinem Roman, seiner herzerwärmenden Geschichte, den Themen Vorurteile, Homosexualität und Probleme mit dem Coming-Out widmet. Toll dabei ist vor allem auch die Botschaft, dass man zu sich selbst stehen sollte, denn »Aber wenn ich eines gelernt habe, dann, dass der Versuch, anders zu sein, als man ist, einen echt unglücklich macht. Außerdem: Wie soll man wissen, ob die Leute einen mögen, wenn man ihnen nie zeigt, wie man wirklich ist?«

Der Autor hatte mich mit seiner Geschichte unheimlich schnell in seinen Fängen. Ich mag Romane um ganz besondere Menschen. Ein solcher ist Albert auf jeden Fall, weshalb er sich schnell in mein Herz geschlichen hat und ich diesen Roman mit ihm gebangt, gefühlt, gehofft, ja gelebt habe. Albert hat mich so gerührt und so ist mir bei jedem Schritt, den er sich mehr öffnet, er Freunde findet, fast das Herz aufgegangen, ich war gerührt und ganz oft habe ich mich auch amüsiert. So kann ich z.B. jetzt noch schmunzeln, wenn ich daran denke, wie er sich für die Weihnachtsfeier, zu der er von seiner Chefin verdonnert wird, den vorgeschriebenen Weihnachtspulli besorgt. »Voll krass«, nickte sie. »Echt knuddelig.« Albert zwang sich, nicht zusammenzuzucken. Denn ›knuddelig‹ wollte er auf gar keinen Fall sein. Was, wenn mich tatsächlich jemand knuddeln will? Er beschloss, einfach das Beste zu hoffen, denn dies war der einzige Pullover, der auch nur ansatzweise akzeptabel war. »Okay, den nehme ich.« oder verspüre Stiche im Herz, wenn ich daran denken muss, wie sein Vater ihn behandelt hat. Szenen, wie „Unvermittelt fing er an zu schluchzen und vergoss bittere, kehlige Tränen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten erlaubte er sich zu weinen, und als er einmal angefangen hatte, konnte er nicht mehr aufhören. Wenn er als kleiner Junge mal weinte, bemerkte sein Dad immer, er sähe aus wie ein ›geschmolzener Gummistiefel‹“ waren es, die mich so unheimlich gerührt haben. Ich habe zudem gebannt gelesen, weil ich unbedingt wissen wollte, was genau damals geschehen ist, warum er die Liebe seines Lebens nicht leben konnte und natürlich, ob er noch eine Chance haben wird, diese am Ende doch noch finden und wieder aufleben zu lassen. Ich habe regelrecht gefiebert darum, weil ich es dem herzensguten Mann so gewünscht habe. Stellenweise dachte ich mir zwar, im realen Leben geht es bestimmt oft einmal nicht ganz so glimpflich und rauer zu und ein bisschen schade fand ich, dass die Mieze so früh sterben musste, denn es war zu rührend, wie er sie bekocht und mit ihr geredet hat und ich mich aufgrund des Covers fast ein wenig auf einen Katzenroman gefreut hatte, aber sei es drum.

Richtig überzeugt hat mich der Autor auch mit der Figurenzeichnung. Ganz abgesehen davon , dass Albert mit einem solch gutmütigen Wesen ausgestattet ist und sich sofort in mein Herz geschlichen hat, zeigt der Matt Cain ganz deutlich wie es in dem Mann aussieht, der sich jahrelang versteckt und verstellt hat, mehr als nachvollziehbar, warum er das musste bzw. tat und ebenso authentisch, wie er sich langsam öffnet. Nicole, die junge alleinerziehende Mama ist Albert im Grunde gar nicht so unähnlich. Sie ist ebenfalls kontaktscheu und mit wenig Selbstbewusstsein ausgestattet, sie weiß allerdings sehr genau, was sie will, hat noch nicht resigniert. Auch in ihrem Leben gibt es so einige Baustellen, weshalb ich auch mit ihr so richtig mit fiebern und leben konnte. Aber nicht nur die beiden, auch die kleinen Nebendarsteller, die diverse kleine Leute im realen Leben mit ihren Sorgen zeigen, sind mit vielen meist liebevollen Besonderheiten, individuellen Macken, Ecken und Kanten ausgestattet und beleben die Geschichte gelungen.

Alles in allem eine herzerwärmende Geschichte, die mich mit einnehmenden Darstellern, allen voran natürlich Albert, völlig einnehmen konnte weshalb sie von mir auch gerne fünf Sterne bekommt.