Schwebende Bilder mit Botschaft

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singstar72 Avatar

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Eine Vorbemerkung muss ich machen. Mir ist entgangen, dass neuerdings Hörbücher im mp3-Format hergestellt werden, nicht mehr im Audio-Format. So auch dieses Hörbuch. Das hat einerseits den praktischen Vorteil, dass es bei einer ungekürzten Lesung wie dieser weniger CDs sind. Andererseits hatte es für mich persönlich einen Nachteil, da ich mp3 nur direkt am Rechner hören kann. Und wer setzt sich im Frühjahr und Sommer bei schönem Wetter schon gern an den Schreibtisch…? Aber das ist wohl mein persönliches Problem.

In vielerlei Hinsicht war dieses Hörbuch eine ganz ausgezeichnete Wahl! Gerade Stoffe von Pascal Mercier eignen sich hervorragend, um vorgelesen zu werden – weil es weniger um Plot, als um Stimmungen und Atmosphären, um Gedanken, geht. Weil alles so „schwebend“ ist. Der Sprecher Markus Hoffmann trägt dem in beispielhafter Weise Rechnung. Er zeichnet alles in ruhigem, betontem, federleichtem Stil. Er liest es weniger wie eine fortlaufende Geschichte, sondern wie eine Reihe von Bildern. Er hat den Text geradezu poetisch verinnerlicht. Es war ein wahrer Hörgenuss!

Ein wenig ungewöhnlich fand ich, dass die Hörversion keine Kapitel hatte, nur einzelne Tracks. Ich habe mir hingegen sagen lassen, dass die Druckversion sehr wohl Kapitel haben soll. Das war manchmal ein wenig unpraktisch, da ich nur ungefähr springen konnte, wenn ich zum Beispiel den Faden wiederfinden musste. Andererseits passte es gut zu dieser Geschichte. Das „Gewicht der Worte“ enthält viele, viele Binnenerzählungen, viele „Geschichten in der Geschichte“. Insofern konnte man durchaus an fast jeder beliebigen Stelle wieder einsteigen.

Ich habe hier viele Themen aus früheren Büchern von Pascal Mercier wiedergefunden. Es geht um die Liebe zur Sprache, um das Übersetzen, ein wenig auch um den Wissenschaftsbetrieb. Um Entscheidungen, die ein Leben verändern. Und um den Verlust einer Ehefrau, welcher den Erzähler nachhaltig zeichnet.

Simon Leyland ist Übersetzer und Verlagsinhaber, als er eines Tages eine tödlich scheinende Diagnose erhält. Er reist nach London, weil er dort ein Haus geerbt hat. Dort will er sich über sein weiteres Leben klar werden – und das wird noch sehr unverhoffte Wendungen nehmen.

Die Erzählung enthält viele Textgattungen. So hält Simon Leyland viele innere Monologe ab – wenn er über etwas nachdenkt. Es gibt auch zahlreiche Rückblicke. Zu früheren Reisen, ins Krankenhaus, in die Anfangszeit seiner Ehe. Dann wieder beginnt er, Briefe an seine verstorbene Frau zu schreiben. Es gibt Auszüge aus anderen Romanen, die andere Menschen schreiben. Es gibt halbe Lebensgeschichten – zum Beispiel die von dem Russen Kusmin, oder die des Nachbarn und ehemaligen Apothekers Burke. Hier könnte man dem Autor – nur vielleicht – einen Vorwurf machen, weil alle diese Textsorten nicht so ganz trennscharf unterschieden sind. Sie sind alle in einem ähnlichen Ton verfasst. Aber ich fand es wunderbar! Man konnte sich in diesem Buch herrlich „verlieren“.

Nicht zuletzt hat das Buch auch eine Botschaft. Wie lebt man sein Leben, wenn man eine zweite Chance erhält…? Simon Leyland geht hier seinen ganz eigenen Weg. Und auch andere Figuren stehen vor dieser Frage – wie will ich mein Leben leben, wenn ich im mittleren Alter stecke und herausfinde, dass ich schon zu lange dasselbe getan habe? Das Buch regt deutlich zum Nachdenken an.

Jeder, der schon den „Nachtzug nach Lissabon“ mochte, wird auch dieses Buch lieben. Für neue Leser hätte ich eventuell Bedenken – weil eben die Erzählung in sehr gemächlichem Tempo voranschreitet. Wer atemlose Spannung sucht, ist hier fehl am Platze. Aber das wissen die treuen Leser von Pascal Mercier ja bereits.