Grandiose Geschichte

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fraedherike Avatar

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„Weißt du, was ich über Geld gelernt habe? Ich habe mich gefragt, warum sich mein Leben in Singapur genauso anfühlte wie mein Leben in London, und da wurde mir klar, dass sich Geld sein eigenes Reich schafft.“ (S. 106)

Fernab der Welt, in einem Luxushotel auf einer Insel unweit der westlichen Küste Kanadas findet die junge Vincent einen Ort, an dem sie genug Abstand zu den schmerzlichen Erinnerungen an ihre Kindheit und ihre Familie hat. Nach dem Verschwinden ihrer Mutter lebte sie einige Zeit bei ihrer Tante in Toronto, doch ein Streit entzweite die beiden; Vincent bricht die Schule ab und verschwindet. Nun, einige Jahre später, arbeitet sie als Barkeeperin in eben jenem Hotel Caiette, das dem Investor Jonathan Alkaitis gehört. Als dort eines Nachts eine verhängnisvolle Nachricht an die Scheiben der Lobby geschmiert wird, kündigt sie überstürzt und beginnt mit dem mehr als doppelt so alten Alkaitis eine trügerische Liaison in New York. Ihr Leben scheint sich zum Besseren zu wenden: Luxus, so weit das Auge reicht, finanzielle Unbeschwertheit, künstliche Zufriedenheit. Für einige Jahre scheint sie glücklich, aber sie ahnt nicht, welches Geheimnis hinter Alkaitis‘ Vermögen steckt, auf welch unsicherem Grund seine Firma gebaut ist. Hochmut kommt vor dem Fall – und dieser soll sie alle in die Tiefe reißen.

In ihrem bereits fünften Roman „Das Glashotel“ (OT: The Glass Hotel, aus dem Englischen von Bernhard Robben) erzählt Emily St. John Mandel mit eindrucksvoller Präzision, einem feinen Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen und fesselndem, komplex aufgebautem Handlungsbogen die berührende Geschichte einer jungen Frau auf der Suche nach Glück, Heimat und Geborgenheit. Sie ist rastlos, streift scheinbar ziellos durch die Welt, durch ihr Leben, als sei sie unter einem Schleier verborgen. Durch scheinbar nebensächliche Einwürfe wird klar, dass sie Angst hat, vor dem Wasser und der Einsamkeit, Schutz sucht und sich hinter ihrer Kamera versteckt, mit der sie kleine Videos dreht, und auch in ihrer Scheinehe. Doch nur nach und nach setzen ich die Fragmente ihres Lebens durch die Augen unterschiedlichster Personen zusammen, die zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens einen Einfluss auf sie hatten, ein anderes Bild von ihr haben, sie zu ergründen versuchten.

Es ist beeindruckend, wie die Autorin aus einer scheinbar nebensächlichen Szene zu Beginn des Romans ein unbegreiflich klug konstruiertes Labyrinth entspinnt, dessen Handlungsstränge weitreichende Konsequenzen für eine Vielzahl an Personen haben. Das Timing und die unterschiedlichen Tempi sowie die Anordnung der einzelnen Szenen sind hervorragend gelungen, folgen trotz zwischenzeitlicher Rückblicke immer einem stringenten roten Faden. Die Protagonisten sind allesamt vielschichtig gezeichnet, ihre Seele, ihre Gedanken greifbar, und jede*r für sich einzigartig. St. John Mandel spiegelt eindrücklich die Glanz- und Schattenseiten des Lebens in Luxus und Wohlstand wider, das Bestreben, nach außen stets makellos zu erscheinen, keinen Riss in der Fassade zutage treten zu lassen: Es ist ein ständiges Vergleichen, Ausstechen, Niederringen – doch wenn alle Stricke reißen, etwa im Falle einer Finanzkrise, dem Auffliegen eines Schneeballsystems wie Alkaitis es pflegte, stehen alle mittellos da.

„Das Glashotel“ ist eine ganz besondere Geschichte, auf die man sich einlassen muss, doch wenn man es wagt, wird man so schnell nicht davon loskommen – erst dann, wenn die letzte Seite umgeblättert ist. Aber der Nachhall des zerberstenden Glases wird noch lange im Gedächtnis bleiben...

Herzlichen Dank an den @ullsteinverlag sowie @vorablesen für das Rezensionsexemplar!