Die tägliche Qual der Lüge

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buecherfan.wit Avatar

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“Das Glück, wie es hätte sein können” (im Original “Nous étions faits pour être heureux”) ist Véronique Olmis zehnter Roman. Zwei Menschen begegnen sich und beginnen eine Affaire, die von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein scheint, wie zumindest der deutsche Titel andeutet.

Suzanne ist Klavierstimmerin, 40 Jahre als, kinderlos, relativ zufrieden in Ihrer Ehe mit Antoine. Eines Tages begegnet sie Serge, 60, Chef einer Immobilienfirma, als sie den neuen Bösendorfer Stutzflügel des Ehepaars stimmen will, und diese Begegnung bringt die Welt von zwei Familien zum Einsturz. Serge ist mit der 30 Jahre jüngeren, sehr attraktiven Lucie verheiratet und hat zwei reizende Kinder. Es gibt keinen Grund, warum Serge eine Affaire beginnen sollte und zunächst keine Erklärung, warum er die durchschnittlich aussehende, einer anderen sozialen Schicht angehörende Suzanne zu seiner Partnerin wählen oder warum Suzanne sofort auf seine Avancen eingehen sollte. Serge hat ein Geheimnis, das er noch mit niemandem geteilt hat. Seine Kindheit war zu Ende, als er im Alter von 8 Jahren Dinge sah und hörte, die nicht für ihn bestimmte waren. Sein Vater, ein erfolgreicher Chirurg, war ein gewalttätiger Alkoholiker, vor dem er in ständiger Angst lebte. Ein Leben lang hat er sich wegen seiner Passivität und Feigheit geschämt. Er hat die über alles geliebte Mutter nicht vor der Brutalität ihres Mannes schützen können und wird noch als 60jähriger von Schuldgefühlen gequält. Für die anderen hat er seine Kindheit mit dem nach dem Tod der geliebten Frau trauernden Witwer und sich selbst neu erfunden und durchlebt seitdem “die tägliche Qual der Lüge” (S. 46). Suzanne durchschaut ihn sofort, weiß, dass er ihr nur Lügen erzählt und besteht auf der Wahrheit. Dass Suzanne in jeder Hinsicht frei, vor allem frei von Ängsten ist, macht für Serge ihre Attraktivität aus. Durch die Liebe zu ihr ist er endlich in der Lage, sich der Wahrheit zu stellen und dadurch vielleicht die Kindheitstraumata zu verarbeiten. Nach 40 Jahren wagt Serge es zum ersten Mal, seinem Vater gegenüber zu treten und ihn mit seinen Vorwürfen und Fragen zu konfrontieren und wird später begreifen müssen, dass die Wahrheit in Wirklichkeit viel schlimmer und seine Schuld noch größer ist, als er ein Leben lang gedacht hat. Auch für Suzanne wird die Liasion mit Serge zu einem Akt der Befreiung aus einem ereignislosen, in der Routine erstarrten Leben und ermöglicht es ihr, an die Träume und Pläne ihrer Jugend anzuknüpfen. 

Véronique Olmi erzählt ihre Geschichte in vielen kurzen Kapiteln, abwechselnd aus Serges und Suzannes Sicht, wobei Suzanne als Ich-Erzählerin auftritt. Es ist nicht nur - wie so oft bei Olmi - die Geschichte einer problematischen Liebe. Die Autorin behandelt eine ganze Reihe anderer Themen. Sie untersucht das Verhältnis von Eltern und Kindern, speziell das von Vätern zu ihren Söhnen und zeigt, wie eine Kleinigkeit Leben aus den Fugen geraten lässt, die Harmonie zerstört. Die Musik, hier besonders Liszts Sonaten, spielt eine zentrale Rolle, auch für die Autorin selbst beim Schreiben ihres Buches, wie sie in einem Interview geäußert hat. Olmi zeigt die zerstörerische Kraft von Lügen, Geheimnissen und verdrängter Wahrheit und veranschaulicht in der Figur des Serge das französische Sprichwort “Nul ne guérit de son enfance”, was frei übersetzt bedeutet “Die Wunden der Kindheit heilen nie.”

Véronique Olmis Romane sind nicht heiter und unbeschwert. Wer eine herzerwärmende Liebesgeschichte erwartet, sieht sich bald eines Besseren belehrt. Dennoch habe ich den Roman gern und vor allem schnell gelesen, auch wenn er trotz oder vielleicht sogar wegen des gedanklichen Tiefgangs nicht besonders berührt. Mit kleinen Einschränkungen empfehlenswert.