Mehr erhofft, 3,5 Sterne für mich

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elke seifried Avatar

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Schon lange hat Ruth ihre Eltern nicht mehr besucht, auch die letzten Weihnachten lieber bei der Familie ihres Verlobten Joel verbracht. Nachdem der aber beschlossen hat, dass sie zwar beide packen, aber in getrennte Wohnungen ziehen, da sein Herz anderweitig vergeben ist, setzt sich Ruth ins Auto und fährt die sechs Stunden von San Francisco nach Charleston, ihre Heimatstadt. Dort muss sie erkennen, dass ihr Vater längst nicht mehr so fit ist, wie gedacht, dass er sogar von der Universität beurlaubt wurde, weil er seine Vorlesungen und Seminare nicht mehr auf die Reihe bekommt, und ihre Mutter am Ende ihrer Kräfte ist. Als diese sie bittet sie ein Jahr lang zu unterstützen, sich um ihren Vater zu kümmern, sagt Ruth spontan zu. In San Francisco hält sie nach der Trennung von Linus sowieso nicht mehr viel.


Als Leser begleitet man Ruth und ihre Gedanken von einem Weihnachten bis zum nächsten. Der Roman ist wie eine Art Tagebuch aufgebaut, an Datumsangaben kann man daher dem Jahresverlauf folgen.

„Hier sitze ich, an deiner Stelle, und sammle die Augenblicke.“, und um genau das handelt es sich hier auch, die Autorin sammelt Augenblicke, die so ohne Übergänge, ohne Zusammenhänge aneinanderreiht. Abwechselnd erfährt man in Fragmenten von ihren vergangenen Beziehungen, insbesondere der zu ihrem Ex-Verlobten, von den Eheproblemen ihrer Eltern und vom geistigen Zustand des Vaters, der in diesem Jahr weiter abbaut. Zudem gibt es auch eine Unzahl an sonstigen Beobachtungen, die Ruth macht, die ich nicht einordnen kann und die nicht so meines waren. Ganz gut haben mir hingegen wieder die Bemühungen für die inszenierte Vorlesung, die die Studenten des Vaters auf die Beine stellen, weil sie ihn so vermissen, und auch die Tagebuchaufzeichnungen ihres Vaters, der ebenfalls Augenblicke ihrer Kindheit eingefangen hat, gefallen. „Heute brachst du in Tränen aus, als ich deinen Bruder beim Wickeln einpuderte, und flehtest mich an, nicht zu viel Salz auf ihn zu streuen.“ Hier konnte ich oft schmunzeln, meinte auch seine Liebe zu ihr spüren zu können.

„In dieser Woche hing in unserer Straße plötzlich ein Poster, auf dem eine entlaufende Katze als >muskulös< beschrieben wurde. Am Fahrradständer vor der Post war ein Fahrrad mit Handschellen festgemacht. Wir sahen einem Mann dabei zu, wie er einen Ball für seinen Hund warf, der ihn gehorsam apportierte.“, solche Äußerungen, die mit der Geschichte in meinen Augen so gar nichts zu tun haben, gibt es zuhauf, und mir war nicht klar, wozu diese gut sind. Möglicherweise will die Autorin zeigen, wie sich Ruth emotional distanziert, einfach etwas anderes denkt. Ich weiß es nicht, mir war es auf jeden Fall zu viel unnötiges Füllmaterial, was mir nur dann gut gefallen hat, wenn ich dabei interessante Dinge erfahren habe, wie z.B. dass bei einer Nierentansplantation die dritte Niere in die Beckengegend kommt, oder einiges aus der Tierwelt, dass ihr jemand erzählt, oder das sie im Moment im Fernsehen sieht.

„Du sagtest, du wolltest nicht, dass ich sehe, wie du dich Palim-Palim verhältst.“, auch wenn gelegentlich ernste Momente, die zu bewegen vermögen, mit dabei sind, auch Verhaltensweisen geschildert werden, die bei der Erkrankung authentisch sind und das Ganze auch nicht ins Lächerliche gezogen wird, wird die Krankheit Alzheimer eher auf eine für den Leser amüsante Art und Weise dargestellt. Da landen schon mal die Klamotten auf den Bäumen der Straße, weil ihm nicht passt, das Ruth sie beschriftet hat, oder er verschanzt sich in seinem Arbeitszimmer, sie wartet vor der Tür und nach Stunden schiebt er einen Zettel mit den Worten „PINKLE GLEICH INS GLAS, BITTE GEHT WEG“ unter der Tür hindurch. Hier konnte ich durchaus immer wieder auch einmal schmunzeln, richtig bewegt hat es mich aber eher nicht, obwohl ich selbst in meiner Familie bereits schmerzhafte Erfahrungen mit der Krankheit gemacht habe. Zudem erhält man Informationen über die Krankheit, wie z.B. Nahrungsempfehlungen.

„Du sagtest, dass du ein paar Sachen im Kopf hast, aber dass du in letzter Zeit Schwierigkeiten hast, an sie heranzukommen – auf sie zuzugreifen. Du hattest das Gefühl, dass all diese Gedanken in einer Kiste steckten, die mit Klebeband zugeklebt sei, und das Schwierige sei, dass du nicht das richtige Werkzeug hast, um heranzukommen – keine Schere und kein Messer. Und es sei sehr schwierig – jeden Tag aufs Neue schwierig – zu versuchen, den Anfang des Klebebands zu finden.“ Die Autorin kann sich durchaus ausdrücken, kann formulieren, das zeigt schon dieses eine Bild meiner Meinung nach ganz deutlich. Jedoch ist es ihr nicht gelungen mich mit ihrem Roman einzufangen. Dazu war mir der Schreibstil viel zu sachlich, nüchtern und distanziert. Gefühle habe ich in diesem Roman so gut wie gar nicht gefunden, zumindest nicht Schwarz auf Weiß. Gelegentlich kann man zwischen den Zeilen zwar durchaus selbst interpretieren, merkt so z.B. wie sehr sie ihren Verlobten vermisst, wie sehr sie sich wünscht, dass ihre Eltern wieder glücklich sind, dass ihrer Mutter ihrem Vater die Fehltritte vergibt, und ähnliches. Eine Ausnahme bildet sicherlich der Satz „Der Grund, warum ist so selten zu Besuch gekommen bin, ist: Ich wollte Linus` Behauptung nicht bestätigt sehen. Ich wollte mir die Erinnerung an meinen perfekten Vater bewahren.“.

Normalerweise äußere ich mich auch immer ausführlich zu den Darstellern, hier kann ich kaum etwas sagen, weil mir alle sehr fremd geblieben sind, eine Ausnahme macht vielleicht Theo der studentische Helfer ihres Vaters, der sich sehr engagiert.

Alles in allem habe ich zwar mehr oder weniger gebannt gelesen, weil ich dachte, es muss noch etwas anderes kommen, es muss noch tiefer gehen, auch wenn meine Erwartungen nicht wie erhofft erfüllt wurden. Der Sprachstil liest sich zudem locker, leicht und die großzügige Schrift hat ihr Übriges dazu beigetragen, dass die Seiten geflogen sind und ich mich nicht durchs Buch quälen musste, Begeisterung geht aber anders