Ein vielschichtiger Roman

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„Wenn es stimmte, dass die Menschen erst durch ihre Erinnerungen sie selbst werden, konnte man dann nicht, indem man sich die Erinnerungen eines Anderen einverleibte, zu jemand Anderem werden?“

Rie ist in tiefer Trauer um ihren kürzlich tödlich verunglückten Ehemann, als plötzlich ein neuer Schock hinzukommt: Ihr Mann war nicht der, für den er sich ausgegeben hat. Nicht nur der Name Taniguchi Daisuke, nein, auch die Vergangenheit gehört(e) einem Anderen. Doch warum hat er eine falsche Identität angenommen? Um Klarheit zu erlangen, sucht Rie Akira Kido auf, den Anwalt, der sie bereits bei dem Scheidungsverfahren gegen ihren ersten Mann unterstützt hat. Zunächst nimmt Kido den Fall mehr ihr zuliebe an, als dass er wirklich interessant und lukrativ für ihn wäre. Je mehr Kido sich jedoch mit dem Fall befasst, desto faszinierter ist er und desto mehr gerät er in die Fänge der Idee eines Identitätstausches. Er liebäugelt mit der Vorstellung das Leben eines Anderen zu führen. Gleichzeitig setzt er sich aufs Tiefste mit existenziellen Fragen auseinander. Wie lebt man, wie liebt man in der Lüge?

„Das Leben eines Anderen“ ist ein tiefsinniger, vielschichtiger Roman. Im Fordergrund steht der kriminalistische Fall des Identitätstausches. Der Fall wird Stück für Stück aufgedeckt, sodass der Leser der Handlung mit ununterbrochener Spannung folgt. Gleichzeitig handelt es sich bei „Das Leben eines Anderen“ um einen ausgeklügelten Psychologieroman mit vielen philosophischen Fragen. Es werden Fragen nach der Identität und Zugehörigkeit aufgeworfen. Worüber definiert sich der Mensch? Über seine Herkunft? Seine Vergangenheit? Wie wird er zu dem, der er ist? Und, wird er zu einem Anderen, wenn er einen anderen Namen annimmt, die Identität mit einer anderen Person wechselt? Wird er dann ein Stückweit zu dieser anderen Person und nimmt die Vergangenheit des Anderen an, um gleichzeitig seine eigene Vergangenheit abzustreifen wie eine Hülle? Und welche Rolle spielt die Vergangenheit für die Liebe? Kann aus der Lüge eine neue, eine andere Liebe entstehen?

Keiichiro Hirano konfrontiert uns in „Das Leben eines Anderen“ mit einer glaubwürdigen Geschichte, authentisch wirkenden Geschehnissen und lebensnahen Figuren. Gleichzeitig spielt er mit uns als Lesern und dem Zusammenspiel von Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit, wenn er im Prolog schreibt, er habe Akira Kido persönlich kennengelernt und von ihm die Geschichte erzählt bekommen. „Ein Schriftsteller ist immer“, so schreibt er, „auf der Suche nach Menschen, die ihm als Modell für seine Romane dienen könnten. Er hofft, dass eines Tages ganz plötzlich, wie durch einen glücklichen Zufall, Meursault oder Holly Golightly vor ihm stehen. Als Vorlage eignen sich vor allem außergewöhnliche Menschen, allerdings müssen sie auch etwas an sich haben, was sie zum Sinnbild für Andere oder einer ganzen Zeit werden lässt, damit sie, durch die Fiktion geläutert, Symbolcharakter erhalten.“

Auf die Frage hin, warum Kido sich so intensiv mit dem Fall des Mannes auseinandersetzt, der seine Identität mit einem Anderen gewechselt hat, antwortet er: „Durch das Leben des Anderen komme ich an mein eigenes Leben heran. Ich kann über Dinge nachdenken, über die ich nachdenken sollte. Aber einfach so, direkt, kann ich das nicht. Mein Körper stemmt sich dagegen. Es ist so, als würde ich einen Roman lesen und beim Lesen auch meinem eigenen Schmerz begegnen.“ Und ist es nicht auch so bei uns? Lesen wir nicht auch, um uns durch das Leben einer Romanfigur an unser eigenes Leben anzunähern? Um seinem eigenen Schmerz zu begegnen? Und hat nach Beendigung der Lektüre vielleicht auch der ein oder andere mit der Idee eines Identitätstausches geliebäugelt?