Soll Marnes Liebe an alten Geschichten scheitern?

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Marne, die jahrelang in Kalifornien gelebt hat, kehrt in ihren Heimatort zurück. Grund für Marnes Rückkehr war ein Anruf ihres Bruders, vermutlich, weil es der Mutter schlechter geht. Marne verliebt sich in Ray Varrick, den Sohn Adas und den Enkel des Mannes, der vor Jahrzehnten am Tod von Marnes Großvater Luce Schuld gewesen sein könnte. Luces Verschwinden ist noch immer ungeklärt. Als Luces Enkelin und Janes Tochter muss man Rays Familie einfach hassen; eine Beziehung zwischen Mitgliedern der verfeindeten Clans scheint völlig undenkbar.

"Ada Varrick hatte fünf Söhne - Scott, Green, Huck, Ray und Junsie". Junsie lebt nicht mehr, Green starb schon mit dreizehn Jahren, Scott ist Veteran des Vietnamkriegs. Dawn Tripps Bericht über Adas Familie klingt sofort vertraut wie eine Familienanekdote. Erzählungen über unbekannte Familienmitglieder können Zuhörer manchmal erst Jahre später konkreten Personen zuordnen, indem sie Namen und Ereignisse wie ein Puzzle zusammenfügen. Anfangs wirkt die tragische Verbindung zwischen Marnes und Rays Familien wie eine noch unvollständige Patchworkdecke. Wer mit wem verwandt ist, Janes Kindheitserinnerungen, die Aufklärung von Luce Welds Tod, das Verhältnis zwischen Ada und Jane, sowie Marnes Liebe zu Ray verknüpft Dawn Tripp zu einem farbigen Geschichtenteppich. Der Roman wird von Marne, ihrer Mutter Jane, Rays Mutter Ada und weiteren Personen auf zwei Zeitebenen erzählt, die 25 Jahre auseinanderliegen.

Marne weiß als jüngste der Frauen am wenigstens von den Ereignissen. Sie ist damals aus der Enge ihres kleinen Heimatorts förmlich in den Westen des Landes geflohen, ließ sich offenbar ohne Beruf durchs Leben treiben und schlägt sich noch immer mehr schlecht als recht mit kleinen Aufträgen durch. Marne wirkt mühsam beherrscht im Verhältnis zu ihrer Mutter und beschreibt ihre Empfindungen in kargem, kritischem Tonfall. Ein Handlungsstrang des Romans besteht daraus, dass Jane und Ada (die Tochter des Toten und die Frau, der man die Schuld an dem Vorfall gibt) regelmäßig gegeneinander Scrabble spielen. Scrabble, das Spiel mit den Buchstaben-Steinen kann aus purer Freude am Wort gespielt werden, aber auch taktisch, um wie Ada den Gegner mit seinen Steinen auf Felder abzudrängen, die wenig Punkte für die Wertung bringen. Das Warten auf das Aufdecken der Steine und das Füllen des Spielbretts ähneln verblüffend dem Verlauf des Romans. Nicht nur beim Scrabble zeigen Tripps Figuren eine überschäumende Erfindungsgabe im Umgang mit Sprache, die Andrea Fischer in ausdrucksstarke deutsche Redensarten übersetzt hat. Auch ein Bibliotheksbuch, das nicht zurückgegeben wurde und in der Familie von einer Hand in die andere wandert, spielt eine wichtige Rolle für das Erinnern und die Verknüpfung der Ereignisse.

In Dawn Tripps Familienroman kann man sich beim Lesen vergraben, wie Jane sich als Kind in den Geschichten ihres Vaters vergraben hat. Durch die schwer zu fassende Figur der Marne und die ineinander verschachtelten Familiengeheimnisse konnte ich mir nie sicher sein, ob ich schon alle Stücke der Flickendecke beieinander hatte oder ob die Geschichte noch eine andere Wendung nehmen könnte. Weil ich die Bezeichnung Liebes-Thriller ignoriert habe, konnte mich "Das Liebesspiel" - das sehr viel mehr als einen Liebes- oder Familienroman bietet - mit seiner bildmächtigen Sprache und der Verknüpfung der Vielzahl von der Erzählperspektiven fesseln und vorzüglich unterhalten.

Textauszug

"_Sie redete sich ein, sich an die Zeit erinnern zu können, als ihr Vater noch bei ihnen lebte, jene gefährliche, schwebend ausbalancierte Zeit, wenn es denn je eine Balance gab, als sie drei - ihre Mutter, er und sie - sich in dem kleinen Haus herumtrieben. Tatsächlich konnte Jane sich nicht daran erinnern, sie wusste nur, dass sein Schatten auf die Astlöcher in den Kiefernplanken auf dem Boden fiel, dass er seinen Tabak auf dem Blättchen verteilte, sich seine Zigaretten selbst drehte, am Holzofen saß, die langen Beine dem Feuer entgegengestreckt, während ihre Mutter einen Socken auf links drehte oder ein Buch umblätterte, jenes Kinster-Knaster, wenn das Zündholz brannte, daneben die schaukelnde Wiege mit dem Baby, das sie einst war, und seine Stimme, ihr tiefes, weiches Timbre, vermischt mit den Gerüchen vom Kochen - geschmorte Zwiebeln, gebratenes Brot -, das Kratzen eines Löffels im Topf, seine Stimme, die sie bis heute manchmal zu hören glaubte, als werde sie von den Wänden, von Mörtel und Tünche noch immer festgehalte__n_." (S. 69)