Eine Autorin, die sich an sich selbst messen muss

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"Es gelang mir nicht mehr, unschuldig zu sein, hinter den Gedanken existierten andere Gedanken, die Kindheit war vorbei."

Giovanna wächst wohlbehütet in einem der besten Viertel Neapels auf, hoch oben auf einem Hügel und weit weg von den Abgründen der Stadt. Doch eines Abends hört sie ihren Vater sagen, sie ähnele immer mehr ihrer Tante Vittoria - der verhassten, verstoßenen Schwester des Vaters, der Inbegriff alles Schlechten. Giovanna ist am Boden zerstört - doch ihre Trauer wandelt sich schnell in den unbändigen Wunsch, diese Tante kennenzulernen. Und so begibt sie sich auf eine Suche, die das Leben aller Beteiligten bis in die Grundfesten erschüttern wird.

Als ich gesehen habe, dass es einen neuen Roman von Ferrante geben wird, schlugen zwei Herzen in meiner Brust. Einerseits freute ich mich wahnsinnig darauf, nach der neapolitanischen Saga etwas Neues von ihr zu lesen, nicht nur die neu übersetzten alten Romane. Und gleichzeitig hatte ich Angst davor, dass Ferrante an der Großartigkeit ihrer eigenen Saga scheitern würde. Beides ist eingetreten - ich habe einen ausgereiften, stilistisch hochwertigen und ausdrucksvollen Roman bekommen. Aber an der Neapolitanischen Saga scheitert er trotzdem. Warum?

Giovanna und ihr Leben mit den Freundinnen Angela und Ida ähnelt in gewisser Weise dem von Lenù und Lila. Immer geht es um Mädchen, die in der Stadt Neapel ihren Weg finden müssen - die einen von unten nach oben, Giovanna eben von oben nach unten. Ferrantes Symbolik bleibt dabei ähnlich, es kommen Puppen vor und ein irgendwie verhextes Armband, das sich durch die Geschichte windet wie die Schlange am Baum im Paradies. Geschickt lenkt uns Ferrante mit ihrem ausufernden, detaillierten, paradoxerweise verträumt-realistischen Stil durch die Untiefen ihrer Geschichte, die alle ihren Anfang bei Tante Vittoria und diesem Armband nehmen.

Natürlich ist Vittoria nicht die Teufelin in Person - da wir ja alle erwachsene Menschen sind, können wir das ahnen, denn die Dinge sind immer komplizierter als wir sie verkaufen. Trotzdem, sympathisch ist diese Frau nun wirklich nicht - sie ist cholerisch, anhänglich, kalt, abweisend, liebevoll, überdreht und depressiv. Alles in einem. Das verwirrt nicht nur Giovanna, sondern auch die Leserin. Giovanna scheint irgendwann zu resignieren, und Vittoria rückt aus dem Erzählfokus. Hier liegt auch die Krux der Geschichte - etwas erscheint mir nicht fertig erzählt, der ewige Streit zwischen Vittoria und Giovannas Vater am Ende zu schnell und oberflächlich beigelegt. Aber gut, vielleicht hat das für Giovannas Geschichte dann auch keine Relevanz mehr. Mir war Vittoria ab dem letzten Drittel nicht mehr präsent genug, obwohl über sie noch längst nicht alles gesagt war.

Das Buch wartet durchaus mit überraschenden Momenten auf. Es war für mich zum Beispiel ein Schock, wie Giovannas Familie zerbricht, und ihre Beobachtungsgabe für die Menschen um sie herum ist erstaunlich. Dafür lässt sie bei sich selbst zu wünschen übrig - wie jede ordentliche Roman-Jugendliche schwankt sie zwischen "Ich bin eine Schönheitskönigin" und "Ich bin eine hässliche, von allen verachtete Kröte." Diese Coming-of-Age-Dilemmas sind auf Dauer ganz schön anstrengend und auch nicht wirklich lesenswert.

Von ihrer Umwelt wird ihr immer wieder bestätigt, dass sie schön und v.a. intelligent sei (manchmal bekommt sie aber auch zu hören, sie sei hässlich - Thema Fremd- und Eigenwahrnehmung!), aber wie schon Lenù zweifelt sie an der Tiefe dieser Intelligenz, betrachtet sie als schönes Beiwerk, das irgendwo an der Oberfläche schwimmt. Sie meint, das tiefere Verständnis für - ja, für was eigentlich? - fehle ihr völlig. Ihre Neigung, sich an Besserem zu messen, findet im geistigen Raum ein Echo in Roberto, der das letzte Drittel des Romans beherrscht und für mich zur anstrengendsten Figur überhaupt wurde - denn im Grunde existiert er nur im Kopf von Giovanna, der MENSCH Roberto ist ein Fremder. Der Roman verliert in diesem letzten Drittel an Spann- und Aussagekraft, versandet in den romantischen Vorstellungen einer 15-Jährigen, die einen 26-Jährigen anhimmelt. Und das Ende des Roman lässt mich ratlos, frustriert, enttäuscht zurück. Es läuft darauf hinaus, dass Sex für Frauen niemals schön sein kann, außer wenn sie in derben Worten darüber sprechen. In Ferrantes Roman ist Sex für Frauen konnotiert mit Unterwerfung, Passivität, Erdulden. Und das mag ich nicht.

Wie in ihrer Saga gelingt es Ferrante auch hier, die Standesunterschiede in Neapel eindrucksvoll herauszuarbeiten. Hoch oben wohnen die gebildeten, reichen Leute, unten die armen, ungebildeten. Oben sprechen sie reinstes Italienisch, unten derbsten Dialekt. Die Berührungspunkte sind rar, und alle Beteiligten bewegen sich auf dem jeweils fremden Gebiet mit Unbehagen und Wut. Giovanna verbindet die Welten, doch der Spagat will ihr nie recht gelingen. Am Ende gehört sie einfach nirgends dazu, was natürlich nicht zur Besserung ihrer Gemütslage beiträgt. Doch eins wird klar: Egal, wo die Leute leben und wie gebildet sie sind, Dreck am Stecken haben sie alle. Denn es sind alles nur Menschen. Und das ist wahrscheinlich die Quintessenz aus Giovannas Lernprozess hin zum Erwachsenwerden.

Was man sich allerdings beim Lesen unwillkürlich fragt, ist, woran es liegt, dass die Dialoge oftmals wirken wie aus einer schlechten Parodie. Liegt es an der sprachlichen Varietät, die sich in der deutschen Übersetzung nicht adäquat vermitteln lässt? Reden die Leute da echt so merkwürdig - entweder aneinander vorbei, oder extrem gestelzt, oder so herrisch, dass es jeglicher Glaubwürdigkeit entbehrt? Oder liegt es an Ferrante selbst, die an ihrem Versuch, soziale Strukturen zu artifiziell in Sprache zu übersetzen, scheitert?

Nachdem ich dieses Buch zugeklappt hatte, war ich erst einmal wütend - denn der Anfang, der hatte mich begeistert, absolut gepackt und mitgerissen. Doch das ganze letzte Drittel, und insbesondere die Schlussszene, haben das Steuer herumgerissen. Man merkt einfach, dass Ferrante ihre Figuren auswälzen möchte, eben wie in der Saga, und bei diesem einzelnen Roman ist es ihr nicht gelungen, die Balance zu halten. Vittoria tritt zu früh und zu abrupt in den Hintergrund, Giovannas Selbstzweifelei nervt, und Roberto ist halt die endlose Sehnsucht eines Teenagers. Alle anderen Figuren sind gewohnt grauschattiert, man bekommt sie nicht zu fassen und verzweifelt manchmal fast an ihnen. So viele Geheimnisse sind noch ungelöst - Ferrante hätte einfach eine neue Reihe schreiben sollen.