Mag ich Giovanna?

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luisa_loves_literature Avatar

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Das lügenhafte Leben der Erwachsenen von Elena Ferrante ist eine faszinierende, aber keine schöne, Reise durch die Untiefen weiblichen Heranwachsens mit allem, was dazugehört. Giovanna, genannt Giannì, sucht durch den Kontakt mit anderen Menschen nach sich selbst, verliert und erfindet, missversteht und erkennt sich dabei immer wieder aufs Neue.

Mag ich Giovanna? Das ist die Frage, die mich beschäftigt. Und die Antwort darauf lautet: Nein. Ein klares, kategorisches Nein. Es gibt nichts, was mir an ihr gefällt – so wie ihr selbst eigentlich auch nichts an ihr gefällt. Kann ich Giovanna verstehen? Ja, sehr häufig sogar.

Der Name Elena Ferrante war mir zwar geläufig, gelesen hatte ich aber bisher keinen ihrer Romane, daher habe ich keine Vergleichsmöglichkeiten, stehe außerhalb des #FerranteForever-Hypes und konnte mich sehr unvoreingenommen daran machen, ihre Protagonistin Giovanna auf dem steinigen Weg durch das Alter von 13-16 zu begleiten. Was Ferrante hier gelungen ist, verdient Hochachtung, denn sie versteht es aufs Überzeugendste, die Zerrissenheit, Orientierungslosigkeit, Einsamkeit, Ausgeschlossenheit, Neugier, Erkenntnis, Eigenständigkeit und Hilflosigkeit des Heranwachsens einzufangen. Die Verwirrungen der Teenagerzeit, das Desinteresse am Leben, die Enttäuschung gegenüber den Eltern, all dies wird von der Autorin gnadenlos, atemlos und tabulos durch eine ungeschönte Innensicht auf ihre Protagonistin geschildert. Der Leser ist unglaublich nah an Giovanna dran, die sich selbst nur selten schont, auch wenn sie sich selbst nicht immer versteht. Diese sehr authentische Darstellung der Introspektion einer Heranwachsenden ist allerdings nicht der Glanzpunkt des Romans, es ist vielmehr die graduelle Weiterentwicklung der Protagonistin durch diese Einblicke in ihr eigenes Ich. So sieht man sich als Leser am Ende des Roman fast staunend einer erwachseneren Giovanna gegenüber, aber weiß kaum mehr, wie sich diese Reifung eingeschlichen hat – nur, dass sie eben allmählich passiert ist. Giovannas Konzeption und ihre Darstellung sind rundum gelungen. Selten gibt es so realistische, authentische, verstörte und dabei nachvollziehbare Romanfiguren wie sie.

Sprachlich (und auch inhaltlich) gleitet der Roman in dem Wunsch, die unterschiedlichen sozialen Hintergründe überzeugend darzustellen, ab und an ins Vulgäre ab. Derbe Sprache und Handlungsteile sind nicht mein Fall, aber in diesen Roman sind diese Aspekte sinnvoll in die Erzählung integriert und notwendig, um die Frage nach Herkunft und Weiterentwicklung aufzuzeigen. Die beiden Einflussgrößen, die von Giovannas Heranwachsen prägen, werden durch ihre Tante Vittoria und ihren Vater bzw. den Studenten Roberto repräsentiert. Diese Nebenfiguren polarisieren in gewisser Weise, vor allem, weil sie im Gegensatz zu Giovanna und dadurch, dass die Wahrnehmung dieser Figuren ausschließlich durch Giovannas Ich-Perspektive gefiltert wird, zu simpel, zu einfach sind, wie im Übrigen alle Nebenfiguren des Romans. Giovanna schreibt jeder Figur nur bestimmte Handlungsmöglichkeiten und Charakteristika zu, sie hinterfragt diese nur sehr begrenzt und ist auch nicht an ihren Motiven interessiert. So tritt durch die wenig komplexe Nebenfigurendarstellung die grenzenlose Ich-Bezogenheit der Heranwachsenden auch erzählerisch zutage – und wird so zu einem kleinen Meisterstück.

Darüber hinaus erfüllt der Roman auch sonst alle Kriterien, die es für einen (weiblichen) Bildungsroman braucht: zahlreiche Mentorenfiguren, an denen sich die Protagonistin ausrichtet (lediglich der Uneigennutz dieser Figuren muss angezweifelt werden), eine Reise, die zu Erkenntnis führt, unerfüllte Liebe, die Diskussion der eigenen, angeblich mangelnden Attraktivität (das ist ja bereits seit Charlotte Brontës Jane Eyre DAS Thema in der weiblichen Entwicklung), das Auflehnen gegen Autorität usw. Dies ist alles sehr überzeugend, aber auch sehr konventionell – fast schon klassisch – aufbereitet, und birgt daher nicht zu viele Überraschungen und auch das immer wieder zentral gestellte Armband kommt als Symbol nicht besonders raffiniert daher – da wäre sicherlich mehr möglich gewesen.

Der Roman hat mich unterhalten, interessiert, einen Lesesog entfaltet, aber mich auch manchmal abgestoßen. Am Ende stelle ich fest: ich habe das lügenhafte Leben aufgesogen, aber „schön“ in der reinsten Form des Wortes war es nicht. Ich mag den Roman nicht einmal besonders, aber gut ist er.