Wie sich die Sicht auf das Leben verändert

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
frollein_wunderbar Avatar

Von

Dies war mein erster Roman von Elena Ferrante und ich muss zugeben, dass ich vorher noch nicht von ihr gehört habe. Um die Autorin gibt es einen ziemlichen Hype, was nicht zuletzt daran liegt, dass der Name ein Pseudonym ist, ist es überhaupt eine Autorin? Oder mehrere? Oder hat nicht sogar ein Mann die Bücher geschrieben?
Nun, für mich als Leser ist das tatsächlich völlig unwichtig, auch die Begeisterung um ihre Bücher, und so machte ich mich auf, selbst eines ihrer Bücher zu erkunden und mir eine eigene Meinung zu bilden - und das war in der Tat nicht so einfach!
"Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" wird aus Sicht von Giovanna erzählt, die behütet und wohlerzogen im gehobenen Wohngebiet von Neapel aufwächst. Von ihren Eltern geliebt und gefördert erlebt sie eine glückliche, unbeschwerte Kindheit ohne Sorgen mit festen Arbeitszeiten der Eltern und eingespielten Alltagsritualen. Doch die Sicherheit gerät mit Beginn der Pubertät ins Wanken durch eine Äußerung des Vaters, in deren Folge das Mädchen sich, ihr Aussehen, ihre Freundschaften und das perfekte Familienleben infrage stellt. Wer bin ich? Bin ich gut oder bin ich schlecht? Auf wessen Seite stehe ich und wer steht auf meiner? Was macht mich glücklich?
Elena Ferrante beschreibt ganz großartig das Seelenleben eines Teenagers zwischen 13 und 15 Jahren, die Unsicherheit und das plötzliche Wahrnehmen der Welt um sie herum mitsamt ihrer Lügen.
Ich habe mich jeden Tag gefreut, nach Hause zu kommen und weiter über diese Familie zu lesen, deren Fehler Giovanna nach und nach aufdeckt und analysiert, teilweise auch imitiert. Ich finde das sehr gelungen beschrieben, diesen plötzlichen Wandel, der über die Pubertierende hereinbricht, das Rebellische, die Wut und die Verzweiflung, aber auch die Zufriedenheit darüber, sich bewusst zu werden, dass auch sie Einfluss haben kann auf andere, und wenn es schlechter Einfluß ist.
Nun das Aber: Es geht mir zwischendurch zu sehr um das sexuelle erwachsen werden. Ich glaube wohl, das ist ein großer Teil der Entwicklung, aber es kommt mir doch etwas zu derb und zu vulgär daher und scheint nichts Gutes an sich zu haben, Hauptsache man verliert seine Unschuld. Das hat den Rest leider ein bisschen überlagert, die mit einer so tollen Sprache dargestellte ambivalente Stimmung, das mit sich selbst nicht im Reinen sein einer Heranwachsenden. Die Protagonistin kommt mir, was das Sexuelle angeht, zu abgeklärt vor, es ist keine Unsicherheit spürbar.
Die Geschichte wird retrospektiv betrachtet, wie alt die Erzählerin ist, wird nicht gesagt. Doch mal wird ein Erlebnis mit den Worten abgetan, genau wisse sie das auch nicht mehr, wobei ansonsten alles Wort für Wort mit Hintergrundgeräuschen und vorherrschendem Wetter und Gesichtsausdruck der Personen wiedergegeben wird, diese Passagen kamen mir vor, als hätte sie ein anderer geschrieben.
Alles in allem ein tolles Buch. Ich habe eine 14-Jährige Tochter und ich war selbst einmal eine 14-Jährige Tochter. Uns beide würde ich nicht als rebellisch beschreiben, aber was in diesem Buch steht ist so treffend formuliert, dass ich zum Teil verblüfft war.