Von unglaublicher Unmenschlichkeit, aber noch größerer Menschlichkeit

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Przemyśl hatte mich seit jener Fahrt im Postwagen, als ich zwölf Jahre alt war, vieles gelehrt. Die Stadt hatte mich gelehrt, dass Menschen gern mit Wörtern Grenzen zwischen einander ziehen. Jude. Katholik. Deutscher. Pole. Aber das waren die falschen Wörter. Grausamkeit. Liebe und Hass. Das waren die Unterschiede, die zählten. In Przemyśl hatte ich gelernt, was im Leben wirklich wichtig war.
S. 133/134, "Das Mädchen, das ein Stück Welt rettete"

Es ist still über unseren Köpfen. Aber ich weiß, dass die Stille voll von Atemzügen und hämmernden Herzen ist. Voll von Gedanken und Gefühlen, die nicht ausgesprochen werden können. Die Stille über uns ist voller Leben, auch wenn der Tod in wenigen Minuten kommen mag.
Stille ist noch lange keine Leere. Nicht immer.
Nicht für mich.
S. 434, "Das Mädchen, das ein Stück Welt rettete"

Wenn die beiden Mini-Leseproben oben dich nicht ohnehin schon überzeugt haben, dann werde ich das jetzt wohl übernehmen :-).
"Das Mädchen, das ein Stück Welt rettete", oder "The Light in Hidden Places" wie der englische und meiner Meinung nach auch schönere und poetischere Titel lautet, ist in vielerlei Hinsicht ein Buch, das man nicht so schnell vergisst. Ich habe mich des Öfteren dabei ertappt, auch im Alltag, als ich mit anderen Dingen beschäftigt war, darüber nachzugrübeln.
Mich zu fragen, wie es wohl weitergeht. Ob Fusia, wie Stefania genannt wird, es auch weiterhin schaffen wird mit cleveren Ausreden und auch einer ordentlichen Prise Glück ihr tödliches Geheimnis zu wahren. Und zu hoffen, dass sie es tut.
Sharon Cameron hat mich schnell in ihren Bann gezogen. Ihr einfacher Schreibstil und ihre kurzen Sätze, meist ohne ausführlichere Beschreibungen, haben es mir leicht gemacht, die Geschichte zu verfolgen und dennoch hatte ich nie das Gefühl, sie hätte ihre Worte nicht klug gewählt. Viele einfache Worte lassen die wenigen tiefsinnigeren noch schöner und besonderer klingen.
Die Geschichte wird in 1. Person aus Fusias Sicht erzählt, wodurch ich auch zu den anderen Charakteren schnell eine enge Verbindung knüpfen konnte.
Obwohl es doch einige Protagonisten gibt, ist es mir selten schwer gefallen, sie auseinander zu halten, da ihre Charakterzüge deutlich erkennbar sind.
So waren mir einige Personen besonders verhasst, während mich andere immer wieder zum Lächeln, aber auch Bangen gebracht haben.
Neben Fusia waren das vor allem ihre kleine Schwester Helena und Max Diamant, ein Bruder Izios. Trotz ihres jungen Alters beweist Helena immer wieder ihre Gerissenheit und ihren unglaublichen Mut, der dem ihrer großen Schwester in nichts nachsteht. Umso stärker musste ich schlucken, wenn sie einmal mehr beweisen musste, wie tapfer sie ist.
Max versucht, während er selbst ja permanent in Lebensgefahr schwebt, immer wieder, ihr zumindest einen Teil ihrer Kindheit, z.B. durch Geschichten, zurückzugeben. Er muss Unglaubliches durchstehen und dennoch setzt er sich stets für andere ein. Würde es einen anderen Weg für ihn geben, würde er Fusia und Helena niemals in so große Gefahr bringen.
Meinen größten Respekt den beiden (um nur zwei von so vielen zu nennen).
Und last but not least muss ich meine aufrichtige Bewunderung natürlich Fusia gegenüber aussprechen. Für ihren Mut und ihren Einsatz muss sie unter anderem mit ständiger Angst, Hunger und Gewissensbissen gegenüber ihrer Schwester bezahlen, was von der Autorin überragend dargestellt wird.
So wird es, zu Fusias Leidwesen, nie langweilig.
Aber es gibt auch schöne Momente, Licht an verborgenen Orten. Meinen liebsten möchte ich hier nicht spoilern, aber ich verspreche dir, du wirst ihn erkennen, wenn du das Buch liest (Stichwort: Überraschung!) ;-).
Wie sehr ich die Tatsache hasse, dass die Nazis dafür sorgen, dass solche Momente nicht zum Alltag werden. Ihre unfassbar grausamen Verbrechen an den Juden und so vielen anderen sind mir unbegreiflich. Was könnte solche Taten jemals rechtfertigen? Wie kann man nur einem solchen Wahn verfallen und Folter und Mord an unschuldigen Menschen mit einem Lächeln entgegensehen oder sogar aktiv dabei mitwirken?
Meine abgrundtiefste Verachtung ihnen.
Und dennoch dürfen ihre Verbrechen niemals in Vergessenheit geraten. Nicht um der Täter, sondern um der Opfer Willen.
Es sind Bücher wie dieses, die das möglich machen.

Fazit:
Sharon Cameron hat Stefania Podgórskas bewegende Geschichte zu einem absolut lesenswerten und laut Angaben der Autorin sehr realitätsnahen Roman gemacht. Wer ein trockenes Geschichtsbuch erwartet liegt falsch: Dich erwarten Spannung, (sowohl im positiven als auch negativen Sinne) interessante Charaktere, die gesamte Gefühlspalette und eine Hoffnung, die jedes Grauen überwindet.
Meine inständige Bitte an alle, die, wie ich, kaum Bücher dieser Art lesen: Macht eine Ausnahme. Lasst euch von den Grausamkeiten der Nazis nicht abschrecken, auch wenn ihr manchmal schlucken müsst. Es lohnt sich.
Für mich in jedem Fall ein Jahreshighlight!