Das Mädchen, das rückwärts ging

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lunamonique Avatar

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„Das Mädchen, das rückwärts ging“ entstand während Kate Hamers Creative-Writing-Studiums und wurde mit einem Preis für den besten Romananfang ausgezeichnet. Übersetzerin Brigitte Jakobeit schafft es, die unglaubliche Intensität des Debütromans vom Englischen ins Deutsche zu transportieren.

Paul hat Beth verlassen und lebt mit Lucy zusammen. Beth hat den Trennungsschmerz noch nicht verwunden. Sie schenkt ihre ganze Liebe ihrer achtjährigen Tochter Carmel. Carmel fühlt sich von ihrer überfürsorglichen Mutter eingeengt. Beim Besuch eines Irrgartens geht Carmel ihren eigenen Weg und vergisst darüber die Zeit. Beth kann sie erst mit Hilfe eines Angestellten wieder finden. Die Verlustangst der Mutter nimmt zu, kann aber auch nicht verhindern, dass Carmel bei einem Geschichtenfestival verloren geht. Dieses Mal taucht Carmel nicht wieder auf. Was ist geschehen?

Carmel ist klug und verträumt. Sie wirkt öfters wie abwesend. Autorin Kate Hamer verleiht Carmel durch die ungewöhnliche Sprache des Romans Persönlichkeit. Sie fängt für das Mädchen besondere Bilder ein und gibt ihrer Faszination oder ihren Emotionen so Ausdruckskraft. „Ich merke sofort, dass ich den Irrgarten lieber mag als alles, was ich bisher kenne. Die grünen Wände sind so hoch, dass der Himmel schmal wie ein Scheibchen ist, ich komme mir vor wie ein Puzzle und gleichzeitig wie im Wald.“ Carmel nimmt die Welt anders wahr und sie durchschaut die Erwachsenen. Durch die Perspektivwechsel zwischen Mutter Beth und Tochter Carmel erhält der Leser gleich von zwei Seiten Einblick in die berührende Geschichte und erfährt, dass Carmel das Verlorengehen auf dem Geschichtenfestival nicht absichtlich provoziert hat. „Manchmal passieren Dinge, in die es mich einfach hinein zieht. Zum Beispiel der Vorfall, den der Schulleiter meinte. Ich saß auf der Bank und betrachtete einen Baum, der im Wind wehte – und dann bin ich irgendwie abgedriftet, und auf der Welt gab es nur noch mich und den Baum.“ Viele Szenen zeigen Carmels sensible Seite auf einzigartige Weise. Sie wird belogen und getäuscht. Ihr wird Sicherheit vorgespielt. Manchmal lassen ihre feinen Antennen sie im Stich. Sie kann nicht ahnen, was vor sich geht. Auch der Leser wird eine zeitlang im Ungewissen gelassen, was es mit der Entführung auf sich hat. War sie geplant oder erfolgte sie spontan? Was hat der Täter mit Carmel vor? Wie böse sind die Menschen um sie herum? Auf der einen Seite der Zusammenbruch der Mutter, auf der anderen Seite Carmels Verzweiflung und Traurigkeit. Die Geschichte bewegt mit jeder Zeile und rührt zu Tränen. Mit dem Verschwinden Carmels steigt die Spannung und hält bis zum Schluss an. Wird Carmel gefunden? Wird sie nach Hause kommen? Es gibt ein paar Situationen, die die Auflösung möglich machen. Die Spannung wird dadurch immer wieder auf die Spitze getrieben. Mit der steigenden Erwartungshaltung kann das Ende nicht mithalten. Es ist viel zu kurz. Ein paar mehr Seiten wären zufriedenstellender gewesen.

Die ungewöhnliche Gestaltung passt zum Inhalt. Auf der Innenseite des Umschlags gibt es ein Interview mit der Autorin. Das Motiv auf dem Cover dagegen kann die Intensität der Geschichte nicht einfangen. Der Titel klingt rätselhaft und hat Ausdrucksstärke. „Das Mädchen, das rückwärts ging“ ist ein Buch, das man nicht so schnell vergisst. Mit ihrem Debütroman hat sich Kate Hamer auf Anhieb in den Olymp katapultiert. Klasse und Stil haben ein ganz eigenes Level. Von der Autorin ist noch viel zu erwarten. Prädikat: Sehr empfehlenswert.