Gläsern - aber warum?

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Inhalt

Midas Crook liebt das Fotografieren genauso wie das Alleinsein. Bei seinen einsamen Streifzügen durch die Natur St. Haudas trifft er eines Tages auf die zwanzigjährige Ida Maclaird. Sie fasziniert ihn beinahe sofort und da die Insel überschaubar ist, kommt er schnell hinter das Geheimnis der jungen Frau. Sie verwandelt sich von den Füßen aufwärts in Glas. Auslöser dafür scheint eine Begegnung mit dem bizarren Henry Fuwa gewesen zu sein, der irgendwo allein im Moor lebt und nur selten in die Stadt kommt.
Findet Ida keine Möglichkeit, um das Glas aufzuhalten, wird sie zerbrechen und sterben. Midas, der von der lebenslustigen Art Idas irritiert wie beglückt ist, ist entschlossen, ihr bei der Heilung zu helfen. Doch das wird schwierig, denn niemand kennt den genauen Aufenthaltsort Henrys und das Glas ist schnell ...

Meinung

"Das Mädchen mit den gläsernen Füßen" versprach ein melancholisches Märchen für die kalte Zeit des Jahres, wenn die hellen Stunden des Tages zumeist von der Gräue des Zwielichts geschluckt werden und der Frost in jede noch so kleine Ritze kriecht.
Bedrückend und trist geht es dann auch tatsächlich zu, jedoch leider nicht sonderlich mitreißend. Dazu überzeichnet Ali Shaw so manche Figur und gibt jenen, die im Vordergrund stehen nicht genug Substanz und Hintergrund, um sie für den Leser fassbar zu machen. Leider neigt er auch dazu, Situationen zu sehr auszureizen und sie endlos neu zu wiederholen.
Midas ist ein sehr zurückgezogen lebender Mensch, der nur so viel persönliche Kontakte pflegt, wie unbedingt nötig. Seine zarte Seite wird durch seine Arbeit in einem Blumenladen und seine Liebe zur Fotografie (des Lichts in allen Facetten) betont. Schuld daran sein gefühlskalter Vater, der ihn und seine Mutter seelisch misshandelt hat, was nicht nur Midas Mutter zerbrechen ließ, sondern den kleinen Jungen, hilflos und zu keiner Lösung fähig, zusehen.
Shaw zeigt das an kurzen Szenen, die die Familie bei Alltäglichkeiten begleiten. Zunächst schaffen es diese, ein lebendiges Bild Midas aufzuzeigen, dann jedoch drehen sie sich nur noch im Kreis, so dass es wirkt, als würde stets das gleiche in anderer Umgebung beschrieben.
Ida hat im Leben nichts ausgelassen, ihre Hobbys haben sie weit herumgebracht und sie steht voll im Leben. So bildet sie beinahe das komplette Gegenteil Midas, was die beiden wohl so sehr am jeweils anderen fasziniert.
Eine richtig wirkliche Liebesgeschichte entwickelt sich nicht, jedenfalls nicht so, wie es in anderen Erzählungen üblich ist. Und leider bekommen beide kein Happy End, wer damit also nicht leben kann, sollte nicht erst mit dem Lesen anfangen.
Irrtiert hat mich von Anfang an die Namensgleicheit der beiden Protagonisten. An "Ida" einfach ein M und ein s heranzuhängen, schien zunächst nicht sonderlich einfallsreich. Aber nach Ende der Lektüre schlich sich der Gedanke in meinen Kopf, dass beide vielleicht eher wie eine Art Symbol zu verstehen sind. Sind sie letzten Endes vielleicht ein und dieselbe Person? Soll Ida die weibliche, verletzlichere Seite Midas sein, die er schließlich "überwinden" kann, um zu sich selbst zu finden und ein "ganzer Kerl" zu werden? Ich hoffe es ehrlich gesagt nicht, denn ohnehin schon hadere ich mit der Botschaft des Werkes.
Natürlich sollte sicherlich eine trübsinnige Geschichte erzählt werden, aber es fällt doch ziemlich auf, dass es keine wirklich glückliche Figur im Buch gibt. Allen ist im Leben etwas Schreckliches widerfahren, sei es Krankheit, Tod eines geliebten Menschen, seelische Grausamkeit oder einfach der Zwang, ein Leben leben zu müssen, dass so nie gewollt gewesen ist. Dabei zeigt Shaw aber leider keine Alternativen oder Lösungen auf, alles ist schlecht und alles bleibt schlecht. Ob das Buch also wirklich in Jugendhände gehört, sei dahingestellt.
Nicht zuletzt wird das Geheimnis um die gläsernen Menschen, denn es gibt mehrere davon, nicht aufgeklärt. Es ist anzunehmen, dass Shaw dies metaphorisch vielleicht getan hat, aber falls das so sein sollte, habe ich es nicht verstanden. Ida in etwa bekommt nur einen so dürftigen Hintergrund, dass sie kaum einzuordnen ist. Da aber sie an dem Phänomen leidet, wäre es hilfreicher gewesen, mehr über ihre Kindheit, ihr ganzes bisheriges Leben, zu erfahren.
Alles in allem liest sich der Roman zügig weg, enthält jedoch zu viele Elemente, die bedeutsam wirken, aber keine Rolle spielen und vom eigentlichen Kern, der leider nicht wirklich zu greifen ist, ablenken. Trotz sehr viel Mühe des Autors geht das Geschehen nicht wirklich in die Tiefe und verharrt recht oberflächlich, wozu auch die zähen Wiederholungen beitragen. Das Geheimnis bleibt unaufgeklärt und ein Happy End gibt's auch nicht. Darum kann man "Das Mädchen mit den gläserenen Füßen" durchaus lesen, muss es aber nicht unbedingt.

http://www.alishaw.co.uk/
Ali Shaw wurde 1982 geboren und wuchs in einer kleinen Stadt in Dorset, Großbritannien, auf. Nach seinem Abschluss in Englischer Literatur an der Universität von Lancaster arbeitete er als Buchhändler und in einer Bibliothek in Oxford. Sein Debüt Das Mädchen mit den gläsernen Füßen war ein großer Überraschungserfolg und wurde in 18 Sprachen übersetzt.