Gut durchdachter, wendungsreicher Thriller, der allerdings am Anfang nur langsam ins Rollen kommt…

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lovely_lila Avatar

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* Spoilerfreie Rezension! *

Inhalt

In den 90er-Jahren hat die 12-jährige Chloe ihren Vater – einen Serienmörder, der 6 Mädchen das Leben genommen hat – durch Zufall überführt, woraufhin er zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde. 20 Jahre später ist Chloe eine promovierte Psychotherapeutin, erfolgreich, glücklich verlobt. Doch dann verschwinden plötzlich wieder Mädchen und sie wird von ihrer Vergangenheit, die sie so lange verdrängt hat, wieder eingeholt… Treibt ein Nachahmungstäter sein Unwesen oder wurde damals der falsche Mann gefasst?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählweise, Präsens und Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel

Inhaltswarnung: Femizid, Gewalt gegen Frauen und Kinder, häusliche Gewalt, Medikamentenmissbrauch, Vernachlässigung von Tieren, Tod von Tieren, Tierquälerei, Blut, psychische Krankheiten, Suizid, selbstverletzendes Verhalten, Gaslighting, Manipulation
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: --- ♥

Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen:

- Slow-Burn-Thriller
- unerwartete Wendungen
- ausgeklügelter Plot
- Trauma
- Hauptfigur, die an ihrer Wahrnehmung zweifelt
- verwandt mit einem Serienkiller
- Geschwisterliebe

Meine Rezension

„Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, habe ich gelernt, und der Akt, mit dem jemand einem anderen das Leben nimmt, kann viel über diese Person aussagen. Jede Tötungsmethode ist einzigartig, wie ein Fingerabdruck.“ Seite 169

„Das siebte Mädchen“ war dieses Jahr erst mein 4. Thriller (!) – eigentlich ganz untypisch für mich. Jedenfalls haben wir jetzt aber September und mit dem Herbst bricht auch die beste Zeit zum Thriller-Lesen an. Über „Das siebte Mädchen“ hatte ich aus dem englischsprachigen Raum fast nur Gutes gehört. Neugierig hat mich hier nicht nur die Ankündigung gemacht, es verfilmt werden soll, sondern auch die besondere Ausgangssituation: die Tochter eines verurteilten Serienmörders als Protagonistin. Das ist mal eine neue Perspektive, die ich erfrischend fand.

„Was ist, wenn das Zuhause der Ort ist, an dem alles begann? Das Epizentrum des Erdbebens, das die Stadt bis ins Mark erschütterte? Das Auge des Hurrikans, der Familien, Menschenleben, dich zerriss? Alles, was du gekannt hattest?“ Seite 33

Aber ist „Das siebte Mädchen“ wirklich ein Must-read? Meiner Meinung nach nicht. Trotzdem ergeben die immerhin mittelmäßige erste Hälfte und das sehr gelungene, spannende letzte Viertel insgesamt einen soliden Thriller, der mich zufrieden zurücklässt.

Der Einstieg ist mir allerdings nicht wirklich leichtgefallen, da es relativ lange dauert, bis die Geschichte ins Rollen kommt. Wer also auf der Suche nach einem Thriller ist, der von Seite 1 an atemlos spannend ist und abliefert, ist hier definitiv an der falschen Adresse. Erst ab Seite 138 (ich habe es mir genau aufgeschrieben) fängt der Spannungsbogen langsam an, sich aufzubauen.

Gut gefallen hat mir der einfache, aber doch anschauliche und nicht oberflächliche Schreibstil, durch den sich die Geschichte sehr schnell weglesen lässt. Besonders schön und interessant fand ich hierbei die unheilvollen Vergleiche und Beschreibungen, die oft eigentlich gar nicht zu den idyllischen Momenten passen, die die Protagonistin gerade erlebt – wie zum Beispiel der Geruch nach Verwesung, der ihr in die Nase steigt, als sie sich mit ihrem Verlobten die wunderschöne Hochzeitslocation mitten in der Natur ansieht.

Man merkt schnell, mit Chloe stimmt etwas nicht – egal wie sehr sie sich bemüht, die Fassade der glücklichen Verlobten und erfolgreichen Psychotherapeutin aufrechtzuerhalten. Ihre Vergangenheit, ihr Trauma, lauert immer in den dunklen Ecken, findet immer wieder einen Weg in ihr Leben, einen Weg, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie nimmt heimlich Beruhigungsmittel, leidet unter Ängsten (auch vor der Dunkelheit), Flashbacks (= viele Rückblenden für uns Leser:innen) reißen sie immer wieder aus der Gegenwart, wodurch eine interessante Zeitstruktur entsteht. Chloe ist eine Frau mit einem Problem – und genau das macht sie so interessant.

„Es ist die Erkenntnis, dass überall jederzeit Leichen unter meinen Füßen begraben liegen könnten, von denen die Welt da draußen nichts ahnt.“ Seite 86

Neben der angespannten Grundstimmung hat mir auch der gut durchdachte Plot gefallen, bei dem am Ende alle Puzzle-Teilchen an ihren Platz fallen und einen Sinn ergeben. Themen wie Trauma, Schuldgefühle, psychische Krankheiten und der schwierige Umgang damit, wenn sich ein geliebter Mensch als „Ungeheuer“ entpuppt, werden angemessen tiefgründig behandelt. Dabei erwarten einen als Leser:in gerade im letzten Viertel viele überraschende Wendungen, mit denen man nicht rechnet. Ähnlich wie Chloe fängt man auch an, so gut wie allen Leuten in ihrem Leben zu misstrauen, sie zu verdächtigen, Kleinigkeiten zu viel Bedeutung zuzumessen. Man weiß nicht mehr, ob man Chloes und seiner eigenen Wahrnehmung noch trauen kann. Übrigens habe ich das Hörbuch parallel gehört und fand die Sprecherin, Julia Nachtmann (der Name passt hier perfekt), mit ihrer eher tieferen Stimmfarbe richtig angenehm und überzeugend. Mir hat gefallen, dass sie jeder Figur ihre eigene Stimme und Persönlichkeit gegeben und die Dialoge sehr emotional und ausdrucksstark vorgetragen hat.

Kritisieren kann man neben dem langsamen Tempo in der ersten Hälfte sicher, dass der Thriller stellenweise trotzdem ein bisschen vorhersehbar ist (vor allem für erfahrene Leser:innen des Genres) und dass die Protagonistin thrillertypisch gegen Ende ein paar absolut unnötige, nicht nachvollziehbare Risiken eingeht, weil der Plot das verlangt. Da das in Krimis und Thrillern so häufig vorkommt, kann es mittlerweile verschmerzen.

Aus feministischer Sicht bin ich allerdings zwiegespalten: Einerseits enthält das Buch eine gebildete, beruflich erfolgreiche weibliche Hauptfigur und kritische Kommentare zu Gewalt gegen Frauen und ihren berechtigten Ängsten und Schutzstrategien, andererseits werden jugendliche Mädchen von der Autorin mit einem derartigen gruseligen Male Gaze (dt. männlichen, objektifizierenden, sexualisierenden Blick) beschrieben, wie man ihn eigentlich nur einem Mann zutrauen würde. Auch das oder andere Rollenklischee wird leider reproduziert. Zudem gibt es auch eine problematische Liebesszene, in der ein Mann eine Frau ohne Absprache plötzlich würgt, in der SIE sich aber dann bei ihm entschuldigt und sich schuldig fühlt, dass sie die „Stimmung ruiniert“ habe – statt ihm ordentlich die Meinung zu sagen, was sie eigentlich hätte tun sollen.

Mit dem extrem passenden, stimmungsvollen englischen Titel „A Flicker in the Dark“ kann der deutsche – „Das siebte Mädchen“ (ziemlich nichtssagend) – leider auch überhaupt nicht mithalten. Als düstere Verfilmung im Stil von „Gone Girl“ sehe ich bei diesem Buch allerdings trotzdem viel Potential – das könnte richtig gut werden und ich werde sicher einen Blick riskieren. Das neue Buch der Autorin („Was verborgen ist“) wartet übrigens auch schon auf meinem SUB (= Stapel ungelesener Bücher) und wird bestimmt bald seine Chance bekommen.

Mein Fazit

„Das siebte Mädchen“ ist ein Slow-Burn-Thriller, der mich durch seine Langsamkeit lange Zeit nicht so richtig gefesselt, später aber dann doch noch überzeugt hat. Das lag am flüssigen Schreibstil, der unheilvollen Grundstimmung, dem Fokus auf Trauma und psychische Krankheiten, dem gut durchdachten Plot, den unerwarteten Twists und dem starken Ende. Von mir gibt eine Leseempfehlung – allerdings nur für geduldige Thriller-Fans.

Bewertung

Cover / Aufmachung: 5 Sterne ♥
Idee: 4 Sterne
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 3 Sterne
Ende: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonistin: 4 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Spannung: 4 Sterne
Tempo: 2 Sterne
Wendungen: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 3 Sterne
Einzigartigkeit: 3 Sterne

Insgesamt:

☆★☆★ Sterne

Dieses Buch bekommt von mir vier Sterne!