Bis zum Ende. Ein schrecklicher Feigling.

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clara_fall Avatar

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Das ist Marians Einschätzung, als sie den Freund ihres im 1.Weltkrieg getöteten Bruder Will nach 60 Jahren wiedertrifft. Tristan Sadler, inzwischen ein erfolgreicher Literat, trägt stets ein Manuskript mit sich herum, das die Wahrheit über sein Leben enthält - eine Wahrheit, die er selbst nicht ertragen kann und die er der übrigen Welt erst mitteilen möchte, wenn ihm keiner mehr einen Vorwurf machen kann.

Und es ist dieses Manuskript, was man mit diesem Buch zu lesen bekommt und man lernt dabei einen Menschen kennen ohne feste Prinzipien, egoistisch, der nur aktiv wird, wenn es um die eigenen Interessen geht. Die Schilderungen der Kriegsereignisse sind sehr lebhaft beschrieben, sie ziehen lebhaft vor dem Auge des Lesers vorüber. Man spürt den Wahnsinn, der diese Männer vorantreibt, die doch eigentlich nur auf der Suche nach Anerkennung und Zuneigung sind. Eine Schlüsselszene ist die grundlose Erschießung des deutschen Jungen, die zeigt, wie gleichgültig, gefühllos und unmenschlich Menschen durch Krieg werden. Um so mehr mangelt es nicht an Ausreden, wenn die Betroffenen Rückblick halten und eine Erklärung für ihr Handeln suchen. Selbst in hohem Alter beschönigt Sadler sein offenes Schweigen beim Schreiben (sein Tischnachbar beim Festempfang).

Manchmal war ich beim Lesen etwas unsicher, ob John Boynes Schilderungen wirklich zeitgemäß sind. So sieht er in Marians Elternhaus private Fotografien von Will - damals hatte noch keiner Fotokameras etc. für private Aufnahmen. Ich kenne aus dieser Zeit nur gestellte Fotografien aus Fotoateliers mit bleichen, leblosen Gesichtern und keine mitten aus dem Leben heraus aufgenommenen. Seidenstrümpfe, eine Kühltheke in der Fleischerei - gab es das wirklich schon zu dieser Zeit? Diese Dinge haben mich manchmal beim Lesen etwas stolpern lassen, weil es irgendwie nicht zum "Feeling" dieser Zeit passte.

Wie auch sein Buch "Der Junge im gestreiften Pyjama", das für mich das Buch des Jahrhunderts ist, finde ich auch hier, dass es sehr gut als schulische Pflichtlektüre passen würde. Was nützen verstaubte Schmöker wie "Faust" und "Kabale und Liebe", wenn sie doch keiner mehr verstehen kann?! Aber hier in diesen beiden Büchern wird aus einer Zeit berichtet, die aus der Zeit der Urgroßeltern und Großeltern heutiger Schüler berichtet, deren gravierende Fehler jederzeit wieder gemacht werden könnten. Doch ich befürchte, dieser Wunsch nach zeitgemäßer Schullektüre wird weiterhin ungehört und verstaubte Klassiker die Norm bleiben und der jungen Generation weiterhin die Lust aufs Lesen vermiesen.

Insgesamt ein sehr aussagekräftiges Buch, dass man gut und gern auch mehrmals lesen kann. Jedoch bleibt "Der Junge im gestreiften Pyjama" weiterhin unübertroffen. Das Cover finde ich sehr gut ausgewählt.