Wo beginnt die Schuld?

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adhara Avatar

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Ab wann ist Wegsehen Schuld? Wann ist eine falsche Entscheidung eine unentschuldbare Tat? Diese Fragen wirft John Boyne in seinem Roman "Das späte Geständnis des Tristan Sadler" auf. Und er tut es absolut virtuos. Zunächst lässt er dem Leser Zeit, Tristan Sadler kennen zu lernen. Ein junger Mann in England, im Jahr 1919, zurückgekehrt aus einem zerstörerischen Krieg. Äusserst subtil streut der Autor bereits in die Kennenlernphase winzige Details ein, die von der Zerrisenheit der Seele Tristan Sadlers zeugen. Nach und nach offenbart der junge Mann die Abgründe, in die ihn seine Schuldgefühle zwingen. Doch bleibt die Frage im Raum stehen, wo die Schuld tatsächlich beginnt, und wo Tristan Sadler selber ein Opfer der Umstände ist.

John Boyne hat sich keines einfachen Themas angenommen. Einerseits verdecken die Gräuel des zweiten Weltkriegs oft den Blick auf den ebenfalls mit grausamen Mitteln geführten ersten Weltkrieg - um das Interesse an dieser Zeit zu wecken braucht es also einen besonderen Effort. Andererseits lassen die aufgeworfenen Fragen keine eindeutige Antwort zu, der Roman muss also ohne klare Zuordnung von Helden und Täter leben. Und John Boyne hält sich auch nicht ans Schema: Tapfere Soldaten kämpfen gegen bösen Feind. Vielmehr deckt er auf, wie unfähige Vorgesetzte eine Gruppe junger Männer durch gezieltes Mobbing und brutalen Drill zu einem menschenverachtenden Verhalten drängen. Dazu kommt, dass dies alles in einer Zeit spielt, die zwar vordergründig von aufkeimender Lebensfreude zeugt, in der aber Toleranz anders denkenden gegenüber kaum vorhanden war.

All diese Aspekte hat der Autor zu einem stimmigen und intensiven Roman verarbeitet. Leider kommt er aber nicht ohne einige Längen aus, was den Lesefluss etwas beeinträchtigt. Obwohl der Autor seinem Roman ein sehr bedrückendes Thema zugrunde gelegt hat, präsentiert er aber grundsätzlich ein spannendes und gut lesbares Werk. Der Aufbau ist konsequent und gekonnt umgesetzt, wenn die aufmerksamen Leser auch bald einmal ahnen, worauf es bezüglich des Geständnisses hinaus läuft. John Boyne lässt seinen Protagonisten eine ganze Reihe von Gefühlsregungen durchlaufen und schafft es doch, ein auf der ganzen Linie überzeugendes Bild des zerrissenen jungen Mannes zu zeichnen. Erst nach und nach vermögen die Leser aber zu erkennen, dass sich die Geschichte gar nicht nur um Tristan Sadler dreht, sondern zwei weitere wichtige - wenn nicht gar wichtigere - Figuren existieren. Hier zeigt sich die Qualität des Autors: Er setzt seine Charaktere optimal in Szene und hält für den Leser nicht nur Unterhaltung bereit, sondern vor allem Stoff, der zum Nachdenken anregt.

Ein Buch, das aufrüttelt und bewegt!