Kann man lesen, muss man aber nicht

Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern Leerer Stern
dorli Avatar

Von

Polen im Frühjahr 1939. Die 17-jährige Marie lebt gemeinsam mit ihrem Vater Dominik in Krakau. An ihre Mutter, die spurlos verschwand, als Marie ein Kleinkind war, hat die Schülerin keine Erinnerung, kennt nicht einmal deren Namen. Da Dominik beharrlich über den Verbleib ihrer Mutter schweigt und nicht bereit ist, auch nur eine Frage zu beantworten, macht sich Marie daran, das Geheimnis rund um das Verschwinden ihrer Mutter zu lösen…

Klappentext und Leseprobe haben mich wahnsinnig neugierig auf diesen Roman gemacht. Ich habe eine Geschichte voller Zeit- und Lokalkolorit erwartet, in der ich eine junge Frau auf der Suche nach ihren Wurzeln begleite. In der ich mit ihr Puzzleteil für Puzzleteil umdrehe und schließlich gemeinsam mit ihr Licht in das Dunkel um die Ereignisse bringe, die ungefähr 15 Jahre zuvor geschehen sind. Bekommen habe ich eine ganz andere Geschichte.

Die Handlung spielt auf zwei Zeitebenen während der Zwischenkriegszeit – überwiegend 1939 sowie in einigen Kapiteln zu Beginn der 1920er Jahre. Rachel Givney stellt nicht Maries Nachforschungen in den Fokus, sondern wartet mit einer Vielzahl zum Teil recht gewichtiger Themen auf, die die Menschen damals bewegt haben. Neben dem damaligen medizinischen Standard mit Meilensteinen wie Penicillin und Aspirin geht es zum Beispiel um die Judenverfolgung in Polen, die politische Situation mit der Bedrohung durch den herannahenden Zweiten Weltkrieg, die Rolle der Frau in der Gesellschaft oder auch um Kriegsneurosen heimkehrender Soldaten nach dem Großen Krieg. Der Autorin gelingt es leider nicht, all diese interessanten Aspekte in Einklang zu bringen. Alles wirkt auf mich oberflächlich und irgendwie unausgegoren.

Auch die Darstellung von Marie hat mir nicht gefallen - mal ist sie eine intelligente junge Frau mit einem starken Willen, dann wieder wirkt sie so naiv, dass ich Zweifel hatte, ob sie in der Lage ist, auf eigenen Füßen zu stehen. Marie trifft bei ihrer Suche nach Antworten auf Ben Rosen, ihren Freund aus Kindertagen. Sie verliebt sich in ihn und konvertiert zum Judentum, um ihn heiraten zu können. Da Maries Entwicklung so gut wie gar nicht erkennbar ist, konnte ich ihr Handeln besonders in diesem Punkt nicht nachvollziehen und es ist mir entsprechend schwer gefallen, mit ihr mitzufiebern. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie überhaupt nicht begreift, was für ein Drama da auf sie zurollt.

Der Part, der kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Lemberg spielt, hat mir ein wenig besser gefallen, wenn auch die Höhen und vor allen Dingen die Tiefen, die Maries Mutter Helena durchmachen musste und die Wege, die sie deshalb gegangen ist, ins Unglaubwürdige abdriften.

Auch wenn ich schon recht früh eine Ahnung hatte, welches Geheimnis Dominik verbirgt und mich das Ende schließlich nicht wirklich überzeugt hat, fand ich die Idee hinter der Geschichte spannend. Daher zwei Sterne und das Fazit: „Kann man lesen, muss man aber nicht“.