Absolute Begeisterung! Dicker schreibt grandios

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Es beginnt mit dem zentralen Ereignis, welches eine Kleinstadt im Staate New York in den Grundfesten erschüttert: 1994 wird während eines Theaterfestivals in der Kleinstadt Orphea die Familie des Bürgermeisters und eine Joggerin vor deren Haus getötet. Der Fall scheint abgeschlossen, bis Stephanie Mailer Zweifel am damaligen Täter Ted Tennenbaum hegt und die Ermittler zwanzig Jahre nach Abschluss des Falls Hinweise entdecken, die ein neues, erschreckendes Licht auf den Vierfachmord von 1994 werfen.

„Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ ist nur der Eisberg, der über der Oberfläche sichtbar ist, der Titel und die ersten Kapitel des Romans. Danach folgt eine Charakterstudie, die sich zur Studie einer kompletten Kleinstadt entwickelt. Nie zuvor hat sich eine Gemeinde so greifbar angefühlt, so echt als lese man reale Tatsachenberichte, die einen Sog entwickeln, dem man nicht entkommen kann. Dicker lässt den Leser zum Zeitreisenden werden: Unzählige Male wird man zwischen 1994, dem ersten Theaterfestival in Orphea, und 2014, dem zwanzigjährigen Jubiläum im Jahr des Verschwindens der Stephanie Mailer, hin und her geschickt. Hierbei sind die Zeitstränge sauber getrennt, eine Verwirrung findet nicht statt. Dennoch spinnen sich Fäden dazwischen, die Zusammenhänge bilden, die man nie erwartet hätte. Klug und feinfühlig schafft es der Autor jedes kleinste Ereignis in beiden Episoden einzigartig herauszustellen. Kleine, aber entscheidende Wendungen wirken genauso tiefgreifend und verändernd, wie drastische Plottwists, die alles anzweifeln lassen, was bisher geschehen ist. Der Roman ist vielschichtig und mehrdimensional, was ihm einige Male sogar zum Verhängnis wird. Zahlreiche Personen, deren Schicksale, Lebensgeschichten, Probleme und Beziehungen einfühlsam erzählt werden legen immer eine Schippe drauf. Es fällt schwer in den letzten Kapiteln zu rekapitulieren, was anfangs stattgefunden hat. Es gerät nicht in Vergessenheit, aber in den Hintergrund.

Das Alleinstellungsmerkmal dieses Romans ist definitiv Joel Dickers Schreibstil. Er liefert mit „Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ eine episodische Erzählung im Jahr 2014 gespickt mit Retrospektive, die sich ausgezeichnet mit der Gegenwart verbindet. Ein intensiver, unterschwelliger Ton bringt die nötige Dramatik hinein. Besonders hervorzuheben ist Dickers Kunst, die Regel „show, don’t tell“ meisterlich zu beherrschen. Man stelle sich ein Gespräch zwischen den Ermittlern und einer Zeugin vor, welche von einem Konflikt im Jahr 1994 berichtet. Der Autor lässt sie einleiten, setzt dann einen scharfen Schnitt und setzt den Leser 20 Jahre zurück. Es folgen also Geschehnisse, die sich viel näher und präsenter anfühlen, als eine simpel erzählte Geschichte der Zeugin. Eine solche Dynamik im Erzählstil trifft man selten an.

Joel Dickers Roman sei jedem ans Herz gelegt, der die Atmosphäre und den Handlungsverlauf in Eugene Chirovicis Romanen mag. Findet man als Leser Gefallen an beziehungsreichen, verflochtenen Geschichten, die sich sowohl zeitlich als auch räumlich erheblich aufspannen, dann hat man auf jeden Fall Spaß mit diesem Buch. Ach, lange Rede, kurzer Sinn: Jeder sollte diesen Roman lesen: Er ist herausfordernd, grandios erzählt, schockierend und echt!