zwiegespalten

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anne_kaffeekanne Avatar

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Ich bin sehr zwiegespalten, was dieses Buch betrifft. Die Grundidee ist interessant, das Thema wichtig, aber die Umsetzung für meinen Geschmack unbefriedigend. Es werden wichtige Fragen aufgeworfen. Es geht um unterschiedliche Moralvorstellungen, die Ethik von Wissenschaft, Kolonialismus, ungewollte Folgen menschlicher Eingriffe...

Norton E. Perina ist Nobelpreisträger, weltberühmt, da er einen Stoff entdeckt hat, der den Alterungsprozess verlangsamt. Nun sitzt er wegen Kindesmissbrauchs einiger seiner über 40 adoptierten Kinder im Gefängnis, die Insel, die er zerstörte wurde von ihn nachahmenden Wissenschaftlern überrannt und die Spezies, die er erforschte, wurde ausgerottet. Sein Assistent Kubudera gibt Nortons Biographie heraus und ergänzt sie mit Fußnoten.

Man betrachtet die Welt immer nur aus Nortons Augen. Aus den Augen eines selbstbezogenen Menschen mit sozialen Schwierigkeiten und wenig Mitleid. Ich würde Norton gar nicht, wie im Buch immer wieder betont, als Genie bezeichnen. Er hatte das Glück eine Entdeckung zu machen, zog die „richtigen“ Schlüsse und war skrupellos genug, seine Entdeckung zu benutzen. Sollte ihn der Nobelpreis vor Strafverfolgung schützen? Natürlich nicht.Es wird am Anfang gesagt, der Text solle sein Verhalten erklären, aber es kam mir ab und an doch wie eine Relativierung vor.

Nortons Weltsicht ist sehr düster. Auch wenn er Uiwu im Nachhinein als Paradies idealisiert, beschreibt er doch seine Reise sehr negativ. Die Dorfbewohner werden als triebgesteuerte, emotionsarme, brutale Wilde gezeigt. Ich will das nicht relativiert haben, sondern hätte gerne eine andere Sichtweise erfahren. Talent und Esme scheinen ja andere Erfahrungen gemacht zu haben und sie können auch mit den Menschen kommunizieren. Norton lernt erst sehr spät die Sprache. Sicherlich ist jede Darstellung eine/r EthnologIn von persönlichen Erfahrungen geprägt, aber so ist es auch die von Norton. Und hier tut das Buch Norton genau das, was er an Esme kritisiert. Norton stülpt den Dorfbewohnern seine Sichtweise und (Nicht-)Moral über. Und das wird von der Autorin nicht problematisiert. Die Fußnoten bringen da wenig Aufklärung, denn der fiktive Schreiber ist ein großer Bewunderer von Norton.

Vor allem, und das ist mein größter Kritikpunkt, geht es sehr lange gar nicht um die im Vorwort aufgeworfenen Fragen. Wir sehen Nortons Kindheit, begleiten ihn bei seiner endlosen Dschungelexpedition. Erst ganz am Ende passiert das im Vorwort Angesprochene. Manchmal hatte ich das Gefühl, die Autorin verlor sich in ihrem eigenen Kosmos und der enormen Anzahl an fiktiven Verweisen auf wissenschaftliche Werke. Manchmal blitzen geniale Szenen auf, wie der Namensstreit mit Viktor, die Degeneration der menschlichen Versuchsobjekte oder die Erwähnung Esmes völlig anderer Sicht auf Uiwu. Doch dann schleppt sich die Handlung wieder ewig dahin. Nachdenklich gemacht hat mich das Buch, öfters angeekelt auch. Immer wieder musste ich es weglegen. Zu bedrückend die Geschehnisse und auch das Wissen, dass die Autorin die Geschichte an einen wahren Fall angelehnt hat.

Ein für mich unangenehm zu lesendes Buch über einen Mann mit sehr düsterer Weltsicht, dass leider seinem Anspruch nicht gerecht wird.