Der Trend der Autofiktion hält an

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Zu meinen für das Literaturjahr 2022 geäußerten Wünschen zählte auch der, dass es mit dem autofiktionalen Schreiben ein Ende haben möge. Diese Art des Erzählens, oftmals auch als Memoir beworben, hat bei mir in den letzten Jahren zunehmend für Ermüdung gesorgt.

Nach dem Knausgard’schen tausendseitigen Mammutzyklus, Eshkol Nevos Selbstinterview, Krachts Schweizerkundung, Alem Grabovacs Kindheit, Julia Francks Welten auseinander, Jan Wilms Schneebuch sowie dutzend anderer Bücher, etwa von Christian Dittloff, Edgar Selge, Helen McDonald, Monika Helfer, Annie Ernaux, Joachim Meyerhoff, Helga Schubert oder Tove Ditlevsen, hoffte ich, dass der Trend des autofiktionalen Schreibens passé sei.

Das Erzählen von Familiengeschichte oder Teilen der (vermeintlich) eigenen Biografie, das Spiel mit Wahrheit und Fiktion, das Hineinschreiben des Alter Egos der Autor*innen in die Texte, all das wirkte in seinem Kreisen um die eigene Befindlichkeit für mich zunehmend manieriert und kalkuliert. Auch wenn viele der obigen Autor*innen tolle Geschichten zu erzählen wissen und einige Vitae in ihrer literarischen Form zu überzeugen wussten, litt ich einfach an Übersättigung, aus der heraus sich auch obiger Tweet speiste.

Es geht weiter in Sachen Autofiktion

Dass es mit meinem Wunsch nach weniger Autofiktion nicht weit her ist, das zeigt sich nun mit Julia Schochs Das Vorkommnis. Wieder ist es eine Schriftstellerin namens Julia, die aus der Ich-Perspektive ein Erlebnis schildert, das in ihr eine Erschütterung auslöst und zu viel Reflektieren und Nachdenken führt, woran uns Schoch in ihrem Buch ausführlich teilhaben lässt.

So stellt sich der Autorin nach der Lesung beim Signieren eine Frau vor, die sich ihr als Halbschwester offenbart. Die Autorin umarmt die Schwester in einer Übersprungshandlung, die wahren Schockwellen äußern sich dann aber erst langsam. Zusammen mit ihren Kindern und ihrer Mutter fliegt die Schriftstellerin in die USA, wo sie in Bowling Green in einem Studentenwohnheim wohnt und Vorlesungen hält. Während ihr Vater daheim mit dem Tod ringt, versucht sie in der Ferne ihr eigenes Verhältnis zu ihrem Vater, ihrer Schwester und ihrer eigenen Familie zu klären und durchpflügt die eigenen Erinnerungen an ihre Beziehungen und ihre Rolle als Mutter.

Das Kreisen um das eigene Ich

In kurzen Kapiteln (72 Stück auf gut 190 Seiten) durchmisst die Erzählerin die eigenen Gedanken und kreist viel um das eigene Ich, während in Sachen äußerer Handlung nur wenig passiert. Was definiert uns als Familienmenschen? Was macht Beziehungen aus? Das sind die Fragen, die Schoch in ihrem Roman umtreiben. So kommt es auch innerhalb des Romans zu einem Nachdenken über das Wesen der Fiktion, die Schoch im Bezug auf Familie hier so beantwortet:

Familie ist Fiktion.

Daran ist nichts Schlimmes. Fiktionen sind keine Täuschungen. Fiktion bedeutet dem Wort nach das Erdenken und Hervorbringen einer neuen Welt. Sie ist eine Möglichkeit, über einen kleinen Umweg in die Wirklichkeit zu gelangen“
Julia Schoch – Das Vorkommnis

Während der Lektüre beschlich mich öfter der Gedanke, dass ich hier eher dem Niederschreiben persönlicher Gedanken als einem wirklich erzählerischen Werk im Sinne eines klar strukturierten und vorwärtsstrebenden Text beiwohne. Zwar fliegt die Autorin in die USA und erlebt auf dem Campus Begebenheiten, der Fokus des Buchs liegt für mich aber im assoziativen Aufrufen von Vergangenem und Erinnertenm Auch ist für mich die Genrezuordnung als Roman wenig treffend, wenngleich dieser Begriff natürlich ein weites Feld ist und verschiedenste Ausprägungen aufweist. Mit meiner Definition des Begriffs des Romans im Sinne eines erzählenden Buchs hat Ein Vorkommnis wenig gemein (und erinnerte mich in manchen Passagen stark an das Buch von Helga Schubert).

Es interessiert mich nur wenig

Und jetzt kommt der Luxus, zu dem mich dieses höchst subjektive Blog befähigt (und in gewisser Weise auch die subjektive Erzählweise von Schochs Buch): insgesamt gesehen interessiert mich das alles allerhöchstens peripher und wusste mich nicht zu überzeugen, obwohl ich dem Buch wirklich eine Chance gab.

Gefühlt schon unzählige Male las oder sah ich Erzählungen, in denen plötzlich ein unbekanntes Familienmitglied auftaucht und in der Folge Fragen darüber entstehen, was man über seine nächsten Mitmenschen eigentlich zu wissen glaubt (etwa zuletzt bei Michael Robothams Die andere Frau).

Wahrscheinlich bin ich als auf Erzählen und literarische Finesse gepolter Leser einfach die falsche Zielgruppe für dieses Buchs. Aber die recht belanglosen Gedanken, das (für meine Begriffe) überzogene Drama, das aus der Begegnung erwächst, das beständige schriftliche Nachdenken in Verbindung mit einer recht durchschnittlichen Sprache war mir für einen überzeugenden Roman zu wenig. Ich konnte mich – vielleicht auch Mangels ganz anderer Lebenswelt – in den Kosmos der Ich-Erzählerin einfach nicht einfühlen und betrachtete alles aus einer großen Distanz, die mir nun auch keine positive Besprechung erlaubt.

Gewiss, sicher kann man das Nachdenken des Romans als facettierte Darstellung der Gedankenwelt der Protagonistin rühmen, man kann die Biographie einer Frau gelungen finden, man kann Schochs Prosa als genau und reflektiert preisen. Sicherlich wird das bald in den professionellen Kritiken zu diesem Buch zu lesen sein. Ich kann es leider nicht – und es tut mir für das Buch auch leid. Aber das ehrliche Urteil soll auf diesem Blog stets oberstes Ziel sein.

Fazit

Schochs Vorkommnis hätte ich in Form dieser Verarbeitung nicht lesen müssen. Es lässt mich kalt, löst nichts aus, wird mit Zuklappen des Buchs schnell vergessen sein. Für mich zu banal, literarisch zu uninteressant und erneut ein Beweis, dass das mit mir und dem autofiktionalen Erzählen nichts mehr werden wird. Und so bleibt in Bezug auf diese Art des Schreibens für mich nur ein Wunsch bestehen, den ich paraphrasiert aus Schochs Text übernehmen möchte:

Ich war wie vor den Kopf geschlagen, gleichzeit wusste ich: Es gibt keine andere Wahrheit als das, was ich sehen und fühlen kann. Und was ich fühlte, war: Es ist vorbei.
Julia Schoch – Das Vorkommnis, S. 134