Unglaublich gut!

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fraedherike Avatar

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„Das hier ist nicht die Geschichte meiner Familie. Die Geschichte meiner Familie gibt es nicht. Da ist nur die Geschichte einer Verwirrung. (...) Ich bilde mir ein, über eine Geschichte zu schreiben, die nicht meine eigene ist. Zu schreiben, damit ich herausfinde, warum sie mich berührt.“ (S. 89f)

Als sie nach einer Lesung von einer Fremden angesprochen wird, die behauptet, ihre Schwester zu sein, wird die Frau von Emotionen überrollt: Zunächst ist da eine unbekannte Freude ob des „neuen“ Familienmitglieds, aber auch große Irritation über plötzliches, unvermitteltes Auftauchen, später sogar Angst, Unsicherheit, ja, Ärger. Die Begegnung, so flüchtig sie auch war, lässt sie ihr Leben, alles, was sie über ihre Familie und das Leben an sich zu wissen glaubte, hinterfragen: die matriarchalen Entwicklungen im Kontext der deutschen Geschichte, die Beständigkeit ihrer Ehe, die Wahrheit.

"Nie weiß man genau, in welcher Gegenwart man lebt. Manchmal sind wir lange Zeit in Gedanken woanders, bei Menschen und Geschehnissen aus einer anderen Zeit, anderen Räumen." (S. 187)

In „Das Vorkommnis“, dem ersten Band des autofiktionalen Erzählzyklus‘ „Biographie einer Frau“, beschreibt Julia Schoch mitreißend und sehr persönlich, welche Auswirkungen das unvermittelte Aufeinandertreffen mit ihrer Halbschwester auf ihr Leben hat, wie sie ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart, ihre Zukunft in Frage zu stellen beginnt. Zunächst versucht sie, die Begegnung zu verdrängen, ist froh darüber, wegen ihres halbjährigen Lehrauftrags in die USA zumindest räumliche Distanz zu schaffen – doch die Gedanken bleiben und wecken immer wieder die Geister der Vergangenheit. Sie ist getrieben von der Frage, was eine Mutter dazu bewegt, ihr Kind – im Speziellen: ihre Halbschwester – zur Adoption freizugeben, ersucht sich Rat bei ihrer „richtigen“, älteren Schwester, doch ihre Beziehung ist seit einem Vorfall distanziert und kühl, nicht einmal diese schicksalhafte Fügung bringt sie einander näher.

Doch das ist nicht das Einzige, was sie beschäftigt. Insbesondere die Rollen der Frauen ihrer Familie geben ihr keine Ruhe: So reflektiert sie ihre eigene Mutterschaft, die Phasen des Abstillens, der neuen Unabhängigkeit und die Leere, die es hinterlässt, ihre Beziehung zu ihren Kindern, aber auch das Leben ihrer Mutter, die sie in die USA begleitet hat. Sie scheint ihr Leben lang immer zurückgesteckt, keine Pause gehabt zu haben, und blüht mit dem Alter und seinen neuen Freiheiten – vielleicht auch der Distanz zu ihrem Mann – endlich auf. Geht es ihr selbst denn nicht genauso? Denkt sie nicht schon seit langem darüber nach, sich von ihrem Mann zu trennen; hatte sie nicht schon einen Zettel in ihrem Portemonnaie mit eben diesen Zeilen? Und was macht eine Familie eigentlich aus, was hält zusammen? Und immer wieder die Gedanken an ihre Halbschwester und deren Herkunft, die sie nicht loslassen.

Die Art und Weise, wie Julia Schoch sich den Fragen nach ihrem Leben, der Rolle der Frau und der alles umfassenden Wahrheit nähert, ist bemerkenswert: Ihre kurzen Anekdoten und Sinneseindrücke geben Raum und fordern dazu auf, über das Gelesene zu reflektieren, Parallelen oder Gegensätze zum eigenen Leben und Erleben zu finden. Sie wechselt immer wieder von einer sehr intimen, nachdenklichen Perspektive auf eine erhabenere Metaebene, distanziert sich, sucht Schutz hinter „geschlossenen Türen“, wie sie es öfters beschreibt – sowohl in der Sprache als auch in ihren Handlungen. Ein Gedanke baut auf den nächsten auf, und so folgt die Erzählung keiner starren Linie, es ist vielmehr ein intuitives, natürliches Spiel der Gedanken. Doch wie verlässlich unsere Erinnerungen sind, wie viel daran Wahrheit oder Fantasie, lässt sich im Rückblick oft nicht sagen. Was ich aber sicher weiß: Dieses Buch hat etwas mit mir gemacht, das ich nicht in Worte fassen kann. Es ist nicht einmal so, dass ich ihr in all ihren Gedanken und Fragen, die sie in den Raum stellt, zustimme, nein, vielmehr ist es die drängende, nach Antworten verlangende Stimme, mit der sie schreibt, ihre Ehrlichkeit, ihr Menschsein, das mich gefangen genommen hat. Große Empfehlung!