Der Schein und das Wesen

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buecherfan.wit Avatar

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Der seltsame Titel des neuen Romans von Arno Strobel könnte Leser auf die Idee bringen, es handele sich um einen Fantasy-Roman. Das ist mitnichten der Fall. “Das Wesen” ist ein spannender Psychothriller, der nie den Boden der Realität verlässt.

Der Roman beginnt mit einem Prolog. Im April 2007 wird ein verurteilter Straftäter nach über 13 Jahren Haft entlassen. Er empfindet große Wut. Später wird der Leser erfahren, dass es sich um den Psychiater Dr. Joachim Lichner handelt, der im Jahr 1994 für die Entführung und Ermordung der kleinen Juliane Körprich verurteilt wurde. Er hat immer seine Unschuld beteuert, wurde aber durch verschiedene Zeugenaussagen, u.a. auch durch seine damalige Partnerin und Patientin Nicole Klement belastet. Die ermittelnden Kommissare waren Bernd Menkhoff und Alexander Seifert. Seifert war damals ein 23jähriger Berufsanfänger, der sich dem erfahreneren älteren Partner unterordnete und es nie gewagt hat, seine Zweifel an Lichners Schuld zu äußern. Durch einen anonymen Brief werden sie 15 Jahre später im heißen Sommer 2009 zu einer Adresse in einem heruntergekommenen Teil Aachens geschickt, wo angeblich ein Kind verschwunden ist und stehen wiederum Dr. Lichner gegenüber. Es entsteht der Eindruck, dass jemand Dr. Lichner eine üble Sache anhängen will. Der alte Hass zwischen Menkhoff und Lichner flammt sofort wieder auf, und Menkhoff möchte Lichner am liebsten sofort wieder einbuchten. Seifert versucht, die Wogen zu glätten und verhindert in vielen Szenen, dass Menkhoff die Kontrolle verliert und sich strafbar macht. Und dann wird wieder ein Kind entführt...

Erzählt wird der spannende Plot auf zwei Zeitebenen. Mit den Schilderungen der Ereignisse von 1994 wird die Vergangenheit für den Leser nachgeholt, so dass er schließlich denselben Informationsstand hat wie die Ermittler. Der zweite Erzählstrang betrifft die Erzählgegenwart und den lange vergeblichen Versuch der Kommissare, die Fäden zu entwirren. Ich-Erzähler ist in beiden Fällen Kommissar Alex Seifert. So werden dem Leser unmittelbar die Zweifel des jüngeren Kollegen mitgeteilt und er macht sich Seiferts Misstrauen gegenüber Menkhoffs Voreingenommenheit und Übereifer bei dem Versuch, Dr. Lichner erneut hinter Gitter zu bringen, zu eigen. Eine wichtige Rolle spielt auch Lichners damalige Partnerin, die psychisch labile Nicole Klement, die nach Lichners Verurteilung Menkhoffs Freundin wurde und für die er sich noch immer verantwortlich fühlt.

Schon frühzeitig glaubt der Leser alles zu durchschauen und Schuld und Unschuld sicher zuordnen zu können, aber als erfahrener Krimileser müsste man es eigentlich besser wissen: das Offensichtliche kann nicht die Lösung sein, und so folgen wir den vielen falschen Fährten, die der Autor legt und beherzigen nicht den Rat, den Psychiater Dr. Lichner den Ermittlern gibt: “Das Wesen, Sie müssen das Wesen erkennen.” (S. 181) Und er liefert gleich auch die Definition für “Wesen” im Unterschied zu “Schein”: “Mit dem “Wesen” wird die beständige Eigenschaft bezeichnet, die alles - auch ein Mensch - zwingend haben muss, um existent zu sein, (...) Im Gegensatz zum “Schein” beschreibt das Wesen das unverfälscht Wahre, das Ureigene einer Sache oder eines Individuums. Das wirkliche Wesen erschließt sich also nicht durch die Wahrnehmung mit unseren Sinnen, sondern nur durch das Nachdenken darüber.” (S. 182). Es ist natürlich ein ganz klein wenig unfair von dem Autor, die Informationen so zu dosieren, dass der Leser das Wesen der Protagonisten nicht erkennen kann. Sonst gäbe es diesen raffinierten Thriller mit den vielen überraschenden Wendungen und dem großen Showdown am Schluss nicht, einen Thriller, der außerdem noch auf übertriebene Gewalt und blutrünstige Details verzichtet.

“Das Wesen” ist ein sehr gelungener Thriller, der sich durchaus mit der internationalen Konkurrenz messen kann und den man in kürzester Zeit verschlingt.