Eher ein trauriges als ein wildes Leben

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"Man brauchte ein Diagramm für meine Familie, um deutlich zu machen, wer was über wen wusste und zu welchem Zeitpunkt. Momente der Offenheit sind selten gewesen."

Der Radiologe Solomon und seine italienische Frau Cici freuen sich auf ihr Kind. Sie haben schon ein schönes Häuschen gekauft und bereiten sich auf ein trautes Leben zu dritt vor. Doch dann gibt es Komplikationen, und Cici verliert das Baby. Sie droht, für immer in einer schweren Depression zu versinken - oder Schlimmeres. Der verzweifelte Solomon sieht nur einen Ausweg und adoptiert ein kleines Mädchen, dem Cici seine ganze Liebe schenkt. Doch Cheri ist nicht so, wie ihre Adoptiveltern es gern hätten, und wird es auch ihr ganzes Leben lang nicht sein.

Ein fantastischer erster Teil leitet dieses Buch ein, in dem detailgetreu beschrieben wird, wie Solomon und Cici zueinander fanden, wie Cici nach Amerika kam, wie sie lebten und liebten. Und am wichtigsten: Wie Cheri zur Welt kam und von ihrer leiblichen Mutter zurückgelassen wurde. Ein junger Mann namens Billy Beal überzeugte seine Mutter, den Säugling aufzunehmen, in der großen Hoffnung, Cheris Mutter käme zurück. Doch das geschah nicht, und Cheri wurde unter fragwürdigen Umständen an die Matzners übergeben.

Soweit so gut. Dieser erste Teil liest sich sehr spannend, ist wirklich berührend und einfach toll erzählt. Doch dann, nach ein paar Dutzend Seiten, kommt ein Sprung von 40 Jahren. Solomon ist bereits tot, Cheri selbst (unglücklich) verheiratet und Cici ist degradiert worden zur nervigen Randfigur in Cheris Leben. Zwar werden in Rückblenden immer wieder auch Cheris Jugendjahre beleuchtet, aber mir fehlte dazu der konkrete Bezug. Es schien, als sei Cheris "wildes Leben" schon gelaufen. Anstatt den Leser aktiv an Cheris Leben teilhaben zu lassen, hat die Autorin hier eine für mich ziemlich undynamische Erzählweise gewählt.

Im Grunde war dieses Leben auch gar nicht wild, sondern einfach nur traurig. Von den Eltern ständig missverstanden, immer in Kontakt mit Drogen, Rebellion um der Rebellion willen, gescheiterte Beziehungen und ein von Tiefschlägen begleitetes Arbeitsleben. Doch Cheri ist nicht einfach Opfer ihres Lebens, sie gestaltet es ganz aktiv so, und das ist nicht immer sympathisch. Sie ist in allem, was sie tut, eine absolute Überfliegerin - beste Schützin im Revier (und trotzdem, oder gerade deshalb, verhasst), beste Keilschriftenexpertin der USA (jedoch von der Lehrtätigkeit suspendiert). Nichts scheint zu funktionieren in ihrem Leben, doch all ihre Leidenschaften verlaufen auch irgendwie im Sande. Sie ergibt sich kampflos in die Suspendierung, der ständig irgendwo herumgeisternde Irakkrieg ist am Ende nur noch Makulatur, ihre Expertise von niemandem gefragt. Gleichzeitig führt sie ausschließlich ungute Beziehungen. Ihre Eltern verteufelt sie (Sol wegen mangelnden Verständnisses, Cici wegen überschwänglicher Liebe), ihren Ehemann kann sie nicht mehr ausstehen und findet erst wieder zu ihm, als er kurz vor dem Tod steht, Freunde hat sie, bis auf Taya, keine. Irgendwie war mir dieser Charakter rätselhaft, und zwar nicht auf authentische Art und Weise.

Das große Thema Eltern-Kind-Beziehung wird kaum berührt. Immer wieder fließen ein paar Weisheiten ein, nach dem Motto "Was wissen wir schon über unsere Eltern?" Selbst mit 40 Jahren verhält sich Cheri noch immer wie ein kleines Kind, das denkt, die Eltern wären nichts als Eltern. Die große Erkenntnis: "Oh, sie hatten/haben ein eigenes Leben! Sie haben Gefühle! Sie haben eine Geschichte!" Schon ein wenig absurd. Außerdem hätte ich so gerne mehr über Cicis Leben erfahren, das nur kurz am Anfang des Buches geschildert und dann durch die Augen ihrer Tochter verzerrt dargestellt wird. Weniger große Zeitsprünge und eine kontinuierlich erzählte Geschichte hätten dem Buch gut getan und auch für einige Überraschungen gesorgt, die im Grunde schon vorweggenommen waren.

Am meisten geärgert hat mich dann allerdings das Ende, das mir zu sehr nach Soap Opera schmeckte. Da zeigen sich Cheris vermeintliche Wurzeln, klären sich ominöse Veranlagungen, wird kitschige "Bin ich nun ein Produkt von Erziehung oder von Biologie"-Rhetorik ausgepackt. Alles in Cheris Leben scheint letztlich seine Begründung im Leben ihrer Vorfahren zu haben - das war mir einfach zu fatalistisch und realitätsfern. Man merkt der Geschichte deutlich an, dass sie von einer Cineastin geschrieben wurde, denn sie verliert sich zunehmend in effekthascherischen Szenen, die künstliche Spannung erzeugen und kitschige Bilder heraufbeschwören. Das hat mir wirklich sauer aufgestoßen, gerade, da das Buch so stark angefangen hat.

Auch wenn ich das Buch sehr schnell gelesen und zunächst als typisch kauzige Diogenes-Geschichte empfunden habe, lässt sie mich nach längerem Nachdenken doch sehr enttäuscht zurück. Zu schnell verliert die Autorin den Fokus und behilft sich mit strategisch platzierten Pseudo-Weisheiten, die eine tiefgründige Geschichte nicht ersetzen können. Der Kampf mit diesem Buch zeigt sich allein schon bei der Wahl des Titels: Im Original "Happy Family", beim deutschen Leseexemplar "Thanksgiving", die deutsche Originalausgabe dann "Das wilde Leben der Cheri Matzner". Da schien sich auch der Verlag nicht entscheiden zu können, um was es denn nun geht. Das ironische "Happy Family" hätte mir jedoch am besten gefallen, denn um die Dysfunktionalität der Familie ging es im Grunde, auch wenn es nicht richtig ausgearbeitet wurde. Ein Buch, das extrem stark anfängt und dann beinahe sofort nachlässt. Sehr sehr schade!