Leben am unteren Limit

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marapaya Avatar

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Als Mitstreiter in einer vermeintlich zivilisierten Welt weiß man eigentlich um sehr viele Dinge, die nicht richtig laufen und entscheidet sich das ein und andere Mal dafür, die Augen zu verschließen – aus den unterschiedlichsten Gründen, die Romane füllen könnten und hier nicht näher ausgeführt werden sollen, außer jenem Grund: Selbstschutz, besonders wenn man das Gefühl hat, selbst nichts an gewissen Situationen ändern zu können. Ich zum Beispiel reagiere extrem sensibel auf Bilder aus Regionen, in denen das Öl in Bahnen fließt, in die es definitiv überhaupt nicht hingehört. Aufnahmen, die von Öl verklebte Wasservögel zeigen, treiben mir innerhalb von Zehntelsekunden das Wasser in die Augen. Allein bei der bloßen Vorstellung, was sich dort gerade wirklich vor Ort abspielt, würde ich wahrscheinlich Tage nicht mehr aus dem Heulmodus herauskommen und damit auch niemanden helfen. Also versuche ich, mich nachhaltig konsumierend, radfahrend und Plastikmüll (die Wellen aus Plastikstückchen auf unseren Meeren zählen bei mir auch in die Augenwasserkategorie) vermeidend zu verhalten und möglichst wenig Bilder von Ölkatastrophen an mich heranzulassen, um wenigstens den eigenen Alltag zu meistern. Unter dieser Prämisse dürfte Tom Coopers Südstaaten-Katrina-Öl-Katastrophen-Nachbeben-Roman eigentlich nicht die richtige Lektürewahl für mich darstellen und vor allem reichlich Taschentuchvorrat erfordern. Tatsächlich ist dieser Roman erschütternd. Und ich habe ihn geradezu verschlungen. Verkrachte Existenzen in einer Region, die sich von der einen Katastrophe noch lange nicht erholt hat und bereits wieder mit einer neuen existenziellen konfrontiert wird und droht, sich dabei gänzlich zu verlieren. Coopers Figuren sind störrisch, Schmerzmittelabhängig, schmuddelig, kurz vor verrückt, wortkarg und harte Arbeit von klein auf gewöhnt. Ihr Alltag ist ein Kampf ums Überleben, dennoch stehen sie jeden Tag auf und machen weiter wie am Tag zuvor. Sie sind zäh. Es ist ein Bild von Amerika, das nichts mit der so gern bemühten Glitzerwelt, der Upper Class oder dem hippen Leben an der amerikanischen Ostküste zu tun hat. Es ist auch nicht die Szenerie der Südstaaten angefangen von Fackeln im Sturm, Vom Winde verweht oder Wer die Nachtigall stört. Zugegeben, all dies sind meinem eigenen Halbwissen entsprungene Klischees über das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Doch Coopers Figuren rühren mich ebenso wie sie mich gruseln und abstoßen. Und mittendrin der erst 18jährige Wes Trench. Seine Mutter verlor er während Naturphänomen Katrina über das Haus der Familie wirbelte. Sein Vater macht die Trauer zu einem bitteren harten Mann, gezeichnet vom Leben als Shrimpsfischer. Shrimps werden nachts im Bayou gefischt und die Erträge werden immer niedriger, die Ölkatastrophe lässt schließlich den Handel einbrechen. Wer will schon ölverseuchte Meerestiere verzehren, dann lieber Tiefkühlkost aus Fernost. Die Laune sinkt und Wes überwirft sich mit dem Vater, heuert beim durchgeknallten, einarmigen Schatzsucher Lindquist an, dessen nächtliche Metalldetektortouren in den entlegenen Ecken des Sumpfgebietes finstere Gestalten auf den Plan ruft, die eigene Geheimnisse im Bayou verbergen wollen. Coopers Figuren sind ehrlich gestaltet. Er wirft eine Handvoll Gestalten ins Gefecht und wechselt immer in die jeweilige Perspektive. Selbst die fiesen Typen kommen einem als Leser so nah und in den ersten Impuls der Abwehr verirrt sich nach weiteren Seiten auch so etwas wie Verständnis. Der junge Wes Trench steht als Sinnbild der gesamten Szenerie da – eine von Unglücken gebeutelte Region, eine vom Verlust gezeichnete Familie und eine Zukunft, die alles andere als rosig daherkommt. Dennoch ist für Wes klar, dass er seinen eigenen Shrimpskutter bauen und dann selbständig auf Fang gehen wird. Trotz aller Widrigkeiten zweifelt er daran keine einzige Minute und steht als kleine Lichtgestalt inmitten all der zerstörten Erwachsenen. Vielleicht sollte ich den Buchtitel dahingehend interpretieren, dass auch aus Wes einer dieser kaputten Erwachsenen werden wird. Doch ich verweigere mich hier einfach. Was nicht geschrieben steht, kann nicht gelesen werden.