Ein Mädchen, dessen Schicksal zum Nachdenken anregt...

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chrissey22 Avatar

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Rezension: Davor und Danach
Mein erster Gedanke als ich den Klappentext von Davor und Danach las war:
Das musst du lesen. Klimawandel – Flüchtlingsdebatte – ein Buch das die Probleme unsere Zeit thematisiert. Dann las ich die Leseprobe und wusste: Die Art wie die Autorin diese Thematik dem Leser vermittelt ist außergewöhnlich.
Nicky Singers Schreibstil war für mich anfangs etwas eigen. Er wirkt nüchtern, irgendwie abgeklärt und distanziert. Aber mit der Zeit wurde mir bewusst, dass er zu dieser Geschichte passt. Mhairis Schicksal ist eben kein Leichtes. Die Art wie die Autorin diese Welt schildert, schnürt einem die Kehle zu, erdrückt einen mit quälender Stille. Die Buchwelt ist unserer viel ähnlicher, als ich zugeben möchte. Egoistische Menschen, ein Erdball voller Grenzen, die von Männern mit schweren Waffen bewacht werden. Männern, deren Finger nervös am Abzug hängen. Mhairi beschreibt in ‚Davor und Danach‘ eine Welt vor und nachdem die Überbevölkerung und die klimatischen Auswirkungen die Menschen zu egoistischen Einzelkämpfern mutieren ließ. Auf ihrer beschwerlichen Reise aus dem Sudan bis zur schottischen Insel Arran erlebt sie Dinge, die man sich kaum vorstellen kann.
Doch anders als ich erwartet hatte, wird die 14-Jährige kein wirklicher Sympathieträger. Im Gegenteil. Bereits am Anfang des Buches blieb sie mir eher negativ im Gedächtnis. Sie wirkt übertrieben tough, was ich ihr in Anbetracht ihres Alters schlicht nicht abnahm. Wie sie den alten Mann und den kleinen Jungen scannt, die beiden fein säuberlich in Schubladen einsortiert. Egal, wie viel sie mitansehen musste, egal wie viele schlimme und grauenvoll Taten sie vielleicht begehen musste, Mhairi ist für die Taten, ihre Denkweise, ihre Art zu Handeln schlicht zu jung. Für mich war genau dieser Umstand der größte Kritikpunkt dieser Geschichte. Ich verstand, dass sie vierzehn sein musste, da sie so eben gerade noch kein vollwertiges „Weltenbürger“-Mitglied war. Gerade so noch jung genug, um ihr einige „Dummheit“ zu verzeihen. Aber dieses Problem hätte man schlicht umgehen können, indem man dort die Altersgrenze einfach höher angesetzt hätte. Einer 16-jährigen Mhairi hätte ich ihre Taten – ihre zum Teil wirklich grausamen Taten eher abgekauft. Auch eine Sechzehnjährige hätte traumatisiert sein können. Hätte leiden können, trauern können um all das, was sie auf dem langen und beschwerlichen Weg zurück in ihre vermeintliche „Heimat“ verloren hat.
Auch die Tatsache, dass viel zu wenig aus dem „Danach“ und viel zu viel aus dem „Davor“ im Buch in den Fokus rückt, fand ich schlicht schade. Leser, die die Leseprobe nicht gelesen haben, bekommen vielleicht ein falsches Bild von dem, was sie in dieser Geschichte erwartet. Denn in meinen Augen handelt es sich nicht wirklich um eine Dystopie. Es ist viel mehr einen Wimpernschlag von unserer Zukunft entfernt. Realistisch, dramatisch. Viel eher ein Jugenddrama, mit einem Hauch Dystopie. Aber auch nicht mehr.
Die Nebencharaktere die man im Laufe der Geschichte kennenlernt, allen voran natürlich der namenlose Junge, den Mhairi jedoch irgendwann schlicht „Mo“ tauft, bleiben dem Leser nur blass in Erinnerung. Die Tatsache, dass Mo nicht spricht fand ich unfassbar schade. Zuerst dachte ich, er muss noch auftauen. Vertrauen zu dem fremden Mädchen fassen. Doch er bleibt stumm. Und mit dieser Stille, die er mit sich bringt, kommen auch eine Menge Fragen, die das Buch mir leider bis zum Schluss nicht beantworten konnte. Wo kommt der Junge her? Wer war der alte Mann bei ihm? Wo sind seine Eltern? Wieso bleibt er bei Mhairi, die ihn eigentlich nie wirklich gut behandelt. Es ist eine eigenartige Beziehung, die die beiden verbindet. Etwas, dass sich mir nicht ganz erschließen konnte. Nicky Singers Nachwort konnte einen kleinen Teil der Fragen beantworten und so erfährt man zumindest, woher die Eingebung des kleinen, stummen Jungen kam. Dennoch findet man als Leser keinen wirklichen Draht zu den beiden Hauptfiguren dieser Geschichte.
Dennoch gab es auch Dinge, die dieses Buch lesenswert machen. Die Idee, Lebensjahre spenden (bzw. verlieren) zu können fand ich erschreckend. Natürlich gab es Vergleichbares bereits in einigen Fantasybüchern zu lesen (z.B.Everless), dennoch ist der Zusammenhang, ein anderer.
„Die Nadel nehmen“ wird im Laufe des Buches ein so feststehender, beängstigender Begriff, dass man ihn als Leser nahtlos in seinen Wortschatz integriert. Dabei heißt das ganze im Endeffekt nichts anderes als:
„Mit 74 wird man sterben. Spätestens.“ Wer Straftaten begeht wird mit Lebensjahren bestraft, die man nicht absitzt, sondern die die Zeit, die man weiterleben darf, verringert. Ein Ansatz, der mich schockiert hat. Eine Idee, die absurd klingt. Aber irgendwie auch erschreckend real. Überbevölkerung ist in Europa vielleicht (noch) ein Problem, aber auch die Ein-Kind-Politik Chinas wird in Singers Werk in ein-zwei Nebensätzen erwähnt. Es zeigt, dass dieses Buch keinesfalls eine erdachte, abwegige dystopische Zukunftsspielerei darstellen soll. Die Autorin möchte zeigen, wie es aussehen könnte.
Und auch wenn ihr das vielleicht nicht mit besonders sympathischen, empathischen Figuren gelingt, so gelingt es ihr dennoch mit der besonderen Atmosphäre, die dieses Buch kreiert.
Ein spannender Ansatz, der mich nachdenklich gestimmt hat. Ein Buch, dass ich trotz eines für mich nicht sehr passenden Endes, für seine Botschaft schätze.
(3,5 Sterne, aufgerundet auf 4)