Ein dunkles Kapitel der ukrainischen Geschichte, sehr einfühlsam erzählt

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Ein sehr dunkles Kapitel der ukrainischen Geschichte bringt Erin Litteken ihren Lesern näher. „Denk ich an Kiew“ zeigt ein geschundenes Volk, das ehemals zur Sowjetunion gehörte und seit 1991 ein selbständiger Staat ist. Ein Volk, das nicht zur Ruhe kommt - die täglichen Nachrichten berichten von der aktuellen Tragödie der Ukraine. Das Leben schreibt die schlimmsten Geschichten, keine Kreatur ist so grausam wie der Mensch.

In zwei Zeitebenen erzählt die Autorin einmal von Katja, Alina, Pawlo, Kolja und ihren Familien in den 1930er Jahren, sie leben in einem kleinen Ort nahe Kiew. Die zweite Zeitebene ist 2016 angesiedelt, in Illinois leben Bobby, Anna, Cassie, Birdie und Nick.

Cassie zieht nach Henrys Unfalltod mit ihrer kleinen Birdie zu ihrer Großmutter, alle nennen sie Bobby, deren Tagebuch mit vielen losen Zetteln darin auftaucht. Nick, ein Bekannter, kann das in ihrer Muttersprache geschriebene Tagebuch lesen. „Ruf ihn an“ ermuntert Bobby ihre Tochter Anna, er wird es übersetzen. Bobby kann das nicht mehr, es wäre zu hart, dies alles nochmal zu durchleben. Es ist ihr aber wichtig, dass Anna Bescheid weiß.

Katja erzählt ihre Geschichte von der Ukraine in der Zeit, als die Bolschewiken alles an sich reißen, sie die Leute zwingen, sich den Kolchosen anzuschließen. Sie und Alina, ihre Schwester, hatten eine glückliche Kindheit und jetzt, als junge Frauen, verlieren sie alles. Katja bekommt von Pawlo ein Tagebuch geschenkt und er ermuntert sie, alles festzuhalten. „Das Tagebuch, das Pawlo ihr geschenkt hatte, war mittlerweile fast voll, und es enthielt alles, was sie gesehen hatte, alles, was sie verloren hatte…“

Die Hungersnot in den 1930er Jahren in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik war eine von höchster Stelle angeordnete. Stalins Ziel, die sowjetische Herrschaft in der Ukraine zu festigen, die Freiheit des einzelnen dagegen brachial zu unterdrücken, wurde gnadenlos vorangetrieben. Wer sich der Zwangskollektivierung entgegensetzte, wurde verhaftet. Sie hatten keine Wahl – ihr Besitz war nicht mehr der ihre, alles war Staatseigentum, jedes Getreidekorn, selbst die angefaulten Kartoffeln gehörten ihnen nicht. Bewaffnete Aktivisten waren eifrig bei der Sache, selbst enge Freude und Familienmitglieder wurden denunziert oder gleich an Ort und Stelle erschossen. Dem Holodomor fielen nach Studien geschätzt 3,9 Millionen Menschen zum Opfer, genauere Zahlen sind nicht mehr zu ermitteln.

Die beiden Zeitebenen werden abwechselnd erzählt, wobei ich im Gestern noch viel mehr verhaftet war. Der Autorin ist es gelungen, all ihre Charaktere, ihre Pein, ihren Überlebenswillen und auch ihren Mut, „Verbotenes“ zu tun, so eindringlich zu schildern, dass ich das Buch nicht weglegen konnte. Ich konnte mich gut in sie hineinfühlen, es waren viele Bilder in meinem Kopf. Das Heute, Cassies Geschichte, war teils eine Liebesgeschichte ohne Tiefgang. Die Idee, sich dem geheimnisvollen Tagebuch als Bindeglied zu bedienen, hat dagegen sehr viel Charme.

Erin Litteken hat ein erschütterndes Zeugnis eines heute fast vergessenen Genozids niedergeschrieben - ein Volk wird ganz gezielt ausgehungert.

Die Geschichte wiederholt sich, den Ukrainern ist kein Frieden vergönnt. Ein Roman, der zutiefst erschüttert, der lange nachwirkt.