ein erschreckendes Kapitel der ukrainischen Geschichte – fesselnd erzählt

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mrs-lucky Avatar

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Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine sind derzeit sehr präsent und erschütternd. Der Roman „Denk ich an Kiew“ arbeitet ein älteres Kapitel der ukrainischen Geschichte auf, dessen nicht weniger brisanten aber wenig bekannten Ereignisse in ihrer Tragweite erschüttern und ein Stückweit erklären, weshalb die Menschen in der Ukraine sich auf keinen Fall erneut einer russischen Herrschaft unterwerfen wollen.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die junge Katja, die im Jahr 1930 mit ihren Eltern und ihrer Schwester im Osten der Ukraine einen kleinen Bauernhof bewirtschaftet. Sie ist verliebt in einen Nachbarsjungen und erlebt einen unbeschwerten Sommer, als eine Gruppe russischer Aktivisten sich im Dorf einnistet, um die Bauern zu zwingen, sich den Kolchosen anzuschließen. Dabei gehen Stalins Männer mit großer Gewalt vor, deportieren und töten diejenigen Bauern, die ihrer Meinung nach den „Kulaken“ angehören oder Widerstand leisten. Die Steuern werden so weit erhöht, dass den Menschen kaum etwas zu Essen und zum Überleben bleibt.
Anhand des Schicksals von Katja und ihrer Familie erlebt der Leser mit, wie die Bevölkerung zunehmend unter der Gewalt und Unterdrückung sowie der Hungersnot leidet. Den Begriff Holodomor hatte ich schon gehört, die Ausmaße dieser von Stalins Herrschaft erwirkten Hungersnot war mir jedoch nicht bewusst. Die Autorin schafft mit ihrer Geschichte ein deutliches und erschütterndes Bild der Ereignisse, das mich beim Lesen oft fassungslos und mit Tränen in den Augen zurückgelassen hat.
Sie rückt ein wichtiges Kapitel nicht nur der ukrainischen Geschichte in den Fokus, auch in angrenzenden Regionen sind hunderttausende Menschen der Hungersnot zum Opfer gefallen.
Die Intensität der Bilder, die die Schilderungen heraufbeschwören und die Nähe zu den Figuren haben mir in diesem Teil des Romans ausgesprochen gut gefallen.
Die Rahmenhandlung des Romans, die im Jahr 2004 angesiedelt ist, fällt dagegen stark ab. Grundsätzlich passt das Szenario; Cassie entdeckt im Haus ihrer zunehmend an Demenz leidenden Großmutter deren Tagebuch. Die Großmutter hat es immer abgelehnt, über ihre Vergangenheit in der Ukraine zu sprechen, nun erlaubt sie ihrer Enkelin, mithilfe eines Nachbarn die auf Ukrainisch verfassten Tagebucheintragungen zu übersetzen. Die Rahmenhandlung mit Cassies Vorgeschichte und den Entwicklungen in der Vergangenheit wirkt jedoch kitschig und sehr dick aufgetragen, hier fehlt die Intensität und Nähe zu den Figuren, die die Rückblenden so lebendig werden lassen. Für Katjas Geschichte vergebe ich 5 Sterne, für die Rahmenhandlung maximal drei.