Das Minenfeld „Erinnerung“

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
francienolan Avatar

Von

Erinnerungen können Minenfelder sein - eine Erfahrung, die Flüchtlinge in besonderer Weise teilen, manchmal fehlen sie Ihnen sogar - man kann sich denken, aus Selbstschutz.
Der Protagonist Said, der - daraus macht der Autor keinen Hehl - autobiografische Züge trägt, wie Khider selbst im Irak gefoltert wurde, geflohen ist, hier nach Deutschland geflüchtet ist und schriftstellerische Ambitionen entwickelte, entdeckt sogar, dass man Erinnerungen „fälschen“ und damit „schreiben“ kann - die Erinnerungsgabe, die er dazu braucht ist, ist ihm gleichzeitig Therapie. Und er schafft es damit, in einer für ihn typischen Schlichtheit der Sprache, die umso eindringlicher wirkt, die Schwere des Themas zu reduzieren, Verständnis zu schaffen, Leser wie mich, die nicht den Hauch einer Ahnung haben, was Said/Khider erleben mussten, nachfühlen zu lassen, ohne gefühlig zu sein. Für mich ist das, auch sprachlich, eine besondere Kunst.
Den Rahmen der Geschichte schafft der Ruf ans Sterbebett seiner Mutter in den Irak – enttäuscht werden könnte, wer nun eine rührige Geschichte erwartet oder gar eine Art Abrechnung mit dem Irak, mit den Erlebnissen der Flucht oder mit der Bürokratie und dem Alltagsrassismus des neuen Heimatlandes. Sensationsmache oder erhobenen Zeigefinger hat Khider nicht nötig - er muss sich nicht abarbeiten, sondern schildert eher reflektiert und sehr klug, teilweise ironisch, und dadurch bewegend, seine Erinnerungen samt Lehrstellen, führt uns zum Mitreflektieren und auch zum Fremdschämen, aber ohne Belehrung und ohne Nostalgiekitsch. Er verbindet den Einblick in seine Kopfwelt und seine Philosophie des Schreibens mit einem raffinierten wie umfassenden Einblick in das Dasein als Migrant, ins Flüchtlingsein und Flüchtlingbleiben.
Eine „Fälschung“ ist es sicher nicht. Jeder, der sich schon einmal mit den Geschwistern über Kindheitserlebnisse ausgetauscht hat, weiß auch um die Subjektivität von Erinnerung, von eigenen „Minenfeldern“, die lächerlich erscheinen gegenüber den Gefühlen derer, die bei uns Zuflucht suchen.
Einen Stern habe ich – trotzdem mich das Buch immer noch beschäftigt – abgezogen, weil die sprachliche Qualität meines Erachtens etwas schwankt, auch die typische Khider-Leichtigkeit ist im Vergleich zum „Palast der Miserablen“ hier nicht ganz erreicht. Trotzdem lässt sich das Buch in einem Zug spannend und „unterhaltsam“, weglesen - es gibt somit einfach gar keinen Grund es nicht zu lesen!
Drei typische Passagen möchte ich zitieren, weil ich sie so passend wie eindrucksvoll fand:
- Dem Buch vorangestellt ist ein Zitat von Klaus Mann: „Es ist kein Verlass auf die Erinnerung, und dennoch gibt es keine Wirklichkeit außer der, die wir im Gedächtnis tragen.“
- Ein typischer kurzer, schlichter Khider-Satz: „Im Irak, das weiß Said, drehen sich die Minutenzeiger nicht über Ziffern, sondern über Wunden.“
-„Er ist wie ein Januskopf. Das eine Gesicht ist für alle sichtbar, zeigt sich allen, so wie sie es sich von ihm wünschen. Das andere Gesicht ist verschleiert, verborgen, rückwärtsgewandt, kauert allein und freiwillig eingesperrt. Das ist Said…, ein verstecktes Ich und ein sichtbares Ich, die unvereinbar sind, aber dasselbe Schicksal teilen müssen.“
Fazit: Mehr als die Erzählung eines Flüchtlingsschicksals, ein eindringlicher Text vom Schreiben, vom Erinnern und vom Dasein - lesen!