Kein Krimi!

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lesemiezi Avatar

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Ich nehme gleich einmal vorweg, dass ich aufgrund des Autors, der Kurzbeschreibung bei amazon.de und der Leseprobe auf vorablesen.de, aber v.a. wegen des Titels einen Kriminalroman erwartet hatte, auch wenn „Roman“ auf dem Buchdeckel steht, und somit eine gewisse Enttäuschung vorprogrammiert war. Diese laste ich teilweise mir selbst an (wer lesen kann, ist klar im Vorteil), zum Teil aber auch dem Verlag, denn mit der Titelwahl und der Kurzbeschreibung wird das Buch m.E. durchaus von der Wahrnehmung her in die Krimiecke geschoben; so ging es ja auch anderen RezensentInnen. (Zum Titel der deutschen Übersetzung später noch mehr.)

Die Leseprobe hatte mir großen Spaß gemacht; ich fand die Handlung von der ersten Seite an packend und hatte sofort eine große Neugier auf das Geschehen um Kallmann entwickelt. Daher hätte ich im Verlauf des Romans mit einem ähnlichen Tempo und v.a. einem gewissen Maß an Spannung gerechnet. Die Erzählweise mit den verschiedenen Perspektiven hat mich auch gleich angesprochen. Es werden schön schrullig-sympathische Lehrerpersönlichkeiten entfaltet und amüsante Einblicke in schwedische Lehrerzimmer geboten. Mit Leon konnte ich aufgrund seines schweren Verlustes gleich Mitgefühl entwickeln, aber auch mit den anderen Figuren, aus deren Sicht die Kapitel abwechselnd geschrieben sind, bin ich mühelos warmgeworden, v.a. mit der Beratungslehrerin Ludmilla. Alle diese Figuren erscheinen trotz oder gerade wegen ihrer Eigenheiten liebenswert. Mir hat auch gut gefallen, dass verschiedene Generationen zu Worte kommen, auch wenn das Ganze vielleicht etwas ausgewogener hätte gestaltet werden können, indem z.B. eine weitere Schülerperspektive aufgenommen worden wäre oder Andreas Mutter Ulrika nicht nur als zeitliche Rückblende, sondern auch verstärkt mit ihrem Blick aufs aktuelle Geschehen Mitte der Neunziger eingearbeitet worden wäre.
Von diesen Figuren lebt der Roman, denn nach dem packenden Einstieg zieht die Handlung sich in der ersten Hälfte des Buches schier endlos hin. Aus jeder Perspektive wird das immer gleiche Geschehen beleuchtet und es dauert bis etwa zur Mitte des Buches, bis die Geschichte ein wenig an Tempo zulegt und man wirklich etwas von Substanz erfährt. Zwar sind die Perspektivwechsel erzähltechnisch durchaus interessant, aber der Autor hätte sie viel stärker dazu nutzen können, die Handlung voranzutreiben. Mindestens im ersten Buchteil bremsen sie die Handlung eher aus; sie werden fast nur dazu benutzt, dass mehrere Personengruppen um immer dieselben spärlichen Informationen kreisen und kaum einmal etwas Neues dazukommt oder in der Handlung etwas Substanzielles passiert. So wird es allmählich langweilig… Allein schon bis zur Mitte des Romans hätte es meiner Ansicht nach nicht geschadet, wenn er um 100 Seiten gekürzt worden wäre.
Im zweiten Teil geschieht endlich ein bisschen mehr; neue Informationen, neue Verwicklungen werden ins Spiel gebracht, das Geschehen entfaltet sich zu einer halben Sozialstudie. Aber auch hier hätte deutlich straffer geschrieben werden können. Allein die nett-skurrilen Figuren haben mich durch die Handlung getragen; ihre sanft ironisch vorgetragenen Lebensweisheiten haben mich schmunzeln und nachdenken lassen, und auf dieser Ebene hat mir das Buch durchaus Vergnügen bereitet.
Die Auflösung jedoch, die am Ende für mich viel zu knapp und schnell auf wenigen Seiten erfolgt, hinterlässt mich ein wenig ratlos, manche Verwicklungen nehme ich dem Autor auch nicht ab, und auf jeden Fall macht sie mich traurig. Schade um mehrere Leben, die so viel glücklicher hätten verlaufen können. Ich werde bestimmt noch eine Weile über dieses Buch und die verschiedenen Lebensgeschichten, die es darstellt, nachdenken.

Nun aber noch zur Wahl des Titels: Der schwedische Originaltitel „Eugen Kallmanns ögon“ – Eugen Kallmanns Augen – gefällt mir um Welten besser als der deutsche Titel "Der Fall Kallmann". Zum einen wurde auch aufgrund der Titelwahl im Deutschen bei mir die Erwartung geweckt, dass es sich um einen Krimi handelt, was ja dann im Laufe der Lektüre zu gewissen Enttäuschungen führte. Vor allem aber verengt der Titel „Der Fall Kallmann“ den Blick unnötigerweise auf den toten Kallmann als einen eventuell ungelösten Kriminalfall, während der schwedische Titel „Eugen Kallmanns Augen“ den lebendigen Kallmann, seine scharfsichtigen (vielleicht auch hochsensiblen?) Beobachtungen und das gesamte Geschehen um ihn herum berücksichtigt, also auch den Strang der Familiengeschichte von Andrea Wester, der ja mindestens genauso wichtig ist wie der mögliche Mordfall Kallmann. Ich begreife nicht, warum ein Verlag da ohne Not von einem gut übersetzbaren Titel abweicht und damit in Kauf nimmt, falsche Erwartungen bei der Leserschaft zu schüren. Ich zumindest hätte ein deutlich größeres Lesevergnügen gehabt, wenn das Buch in meiner Wahrnehmung nicht vorzeitig in der Krimiecke gelandet wäre (denn ich lese sehr gern Romane) – und da hat durchaus der Titel eine entscheidende Rolle gespielt.