Lesevergnügen mit kauzigen Typen in der irischen Provinz

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kainundabel Avatar

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„Sieh dich vor. Es gibt in diesem Dorf keine vertrauenswürdige Seele. Jeder von ihnen hat mindestens zwei Gesichter.“ Mrs Cauley weiß, wovon sie redet. Diese eigenwilligen, mitunter schrulligen und verschrobenen irischen Sturköpfe und Eigenbrötler mögen keine Fremden. Die alte Mrs Cauley residiert als ehemalige Schauspielerin schon seit Jahrzehnten divenhaft und unerschrocken im Dorf Mulderrig. Mahony, der eigentlich Francis Sweeney heißt, ist mit Mitte zwanzig eher noch ein Jungspund und in die irische Provinz gekommen, um seine Herkunft und vor allem das ungeklärte Schicksal seiner verschwundenen Mutter zu klären. Er weiß nicht, was der Leser bereits im Prolog erfährt: Sie ist tot, wurde ermordet und auf der kleinen Insel im Fluss verscharrt. Für Mahony, als Baby auf wundersame Weise vor dem Mörder der Mutter gerettet, wird ein Dubliner Waisenhaus zur Heimat und später zum Ausgangspunkt seiner Suche, hat er doch nach dem Tod einer Nonne einen versiegelten Umschlag erhalten, der Rätsel aufgibt. Mrs Cauley ist sofort Feuer und Flamme für sein Schicksal und will das alljährlich von ihr inszenierte Theaterstück im Gemeindehaus zur Aufklärung des ominösen Falles nutzen.
Auf fast 400 Seiten gelingt der Autorin Jess Kidd ein wunderbar lesbarer, sprachlich ausgefeilter, spannender, unterhaltsamer, mit geradezu fantasievollem Sprachschatz und messerscharfen Beobachtungen gesegneter Roman. Für manchen Leser mag die übernatürliche Fähigkeit Mahonys, als „Freund der Toten“ die Verstorbenen zwischen all den lebenden Zeitgenossen agieren zu sehen, etwas befremdlich und gewöhnungsbedürftig zu sein. Immerhin erscheint ihm seine eigene Mutter nicht. „Er hat gesucht, aber sie hat nie geantwortet.“ So bleibt ein Rest Hoffnung, dass sie vor Zeiten den Ort einfach nur verlassen hat.
Man taucht als Leser tief ein in dieses besondere dörfliche Biotop, von dem man meint, es derart originär nur in der irischen Provinz finden zu können. Was sich hier auf engstem Raum an eigenwilligen Charaktertypen tummelt, macht das Lesen zum Vergnügen. Da gibt es nicht eine einzige aalglatte Figur, jede hat ihre Ecken und Kanten, Schrullen, Macken und Geheimnisse. Und einen verwegen aussehenden jungen Mann, der in diesen Geheimnissen herumstochert, ist das Letzte, was man in Mulderrig braucht.
Für mich ist der Roman ein überaus gelungenes Debut der Autorin, zugleich ein spannendes Lesevergnügen zu jeder Tages- und Nachtzeit!