Gefriergut

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buecherfan.wit Avatar

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In “Der gefrorene Rabbi” mutet der Autor Steve Stern dem Leser einiges zu, und zwar nicht deshalb, weil er jiddische Wörter und Sätze einfließen lässt, die in der deutschen Fassung meist nicht übersetzt werden, sondern weil sein Roman eine solche Materialfülle aufweist, dass es für mindestens vier weitere Romane gereicht hätte.

Da ist einmal die im Jahr 1999 einsetzenden Geschichte von Bernie Karp, einem pummeligen, gelangweilten Teenager ohne Freunde, der eines Tages in der Gefriertruhe einen tiefgefrorenen alten Mann entdeckt. Seine Eltern erklären ihm, das sei Rabbi Elieser ben Zephir, ein Familienerbstück und Glücksbringer, und es gehöre auch noch ein Buch dazu. Eines Tages kommt es während eines Sturms zu einem Stromausfall, und der seit über einem Jahrhundert eingefrorene Rabbi taut auf und setzt sein Leben fort. Das ist eine Prämisse, die der Leser akzeptieren muss und an die er nicht Maßstäbe eines alltäglichen Realismus anlegen darf. Es ist im übrigen weniger verwunderlich, dass er während des Stromausfalls so schnell auftaut, als dass er überhaupt unversehrt lebt. Dies und so manche andere Szene im Roman - zum Beispiel der aberwitzige Schluss -  sind Beispiele eines magischen Realismus, wie wir ihn von südamerikanischen Erzählern kennen, etwa von Gabriel García Marquez in seinem Roman “Hundert Jahre Einsamkeit”.

Während Bernie beginnt, sich mit den handschriftlichen Notizen seines Großvaters und seinen jüdischen Wurzeln zu beschäftigen, indem er jiddisch lernt und die jüdischen Mystiker liest, bringt der Rabbi sich durch Dauerfernsehen auf den neuesten Stand. Er sieht vor allem Oprah Winfrey, Jerry Springer und MTV. Schon bald entdeckt er seinen ausgeprägten Geschäftssinn. Mit Startkapital von Bernies Vater Julius gründet er das Haus der Erleuchtung, wo er als eine Art Guru viel Geld mit tantrischen Sitzungen und allerlei überteuerten Artikeln verdient. Es findet eine erstaunliche gegenläufige Entwicklung statt. Während Bernie seine Spiritualität entdeckt und sich u.a. mit  Transmigration, Levitation und Alchimie beschäftigt, wendet sich der alte Mann ganz dem Irdischen zu und wird ein Genussmensch, der sich von seinen Assistentinnen verwöhnen lässt. Währenddessen taucht Bernie zusammen mit seiner Freundin Lou Ella immer tiefer in die Familiengeschichte ein. Das ist der der zweite Erzählstrang, in dem gerafft gut 100 Jahre jüdischer Geschichte am Beispiel von sechs Generationen der Karp-Familie erzählt werden und natürlich auch erklärt wird, wie der Rabbi in den Eisblock kam und von Osteuropa nach Memphis, Tennessee kam. Dieser Teil behandelt die Progrome in Osteuropa, die Auswanderungswellen in die USA und nach Palästina vor der Gründung des Staates Israel, wo Untergrundkämpfer, z.B. auch ein Karp, gegen die britische Mandatsverwaltung kämpfen. Dieser Ruben Karp kehrt später mit seinem kleinen Sohn nach Memphis zurück, wo seine verwitwete Mutter Jochebed lebt. Die Karps mit ihrer wechselvollen Geschichte stehen für alle anderen, die Verfolgung und gnadenlose Ausbeutung, zum Beispiel in den “sweatshops” genannten Textilmanufakturen in der Lower East Side von New York erleiden mussten. Erstaunlich ist dabei, dass die Ausbeuter Juden sind, die ihre eigenen Leute bis zum Umfallen für einen Hungerlohn arbeiten lassen und dass es eine jüdische Camorra gibt, die genauso brutal Schutzgelder von jüdischen Unternehmern erpresst, wie ihre Kollegen italienischer Herkunft. Verfolgung und der ganz alltägliche Antisemitismus kommen immer wieder zur Sprache, der Holocaust wird jedoch an keiner Stelle explizit erwähnt. Er ist dennoch präsent in der Gestalt von Rubens erster Frau Schprinze, die eine Holocaustüberlebende ist, wie ihre eintätowierte Nummer zeigt.

Sterns Roman ist eine sehr eigenartige Mischung von ganz verschiedenen Elementen, die es dem uneingeweihten Leser schwer machen, reine Begeisterung zu empfinden. Stern erweist sich als ernsthafter Historiker, aber auch als Satiriker, der die oberflächliche und materialistische amerikanische Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts kritisiert. Er ist aber auch ein begnadeter Komiker, der verbalen (jüdischen) Witz und Situationskomik mit einem Hang zur Groteske beherrscht. Nicht zuletzt erzählt der Roman auch eine anrührende Liebesgeschichte - die Geschichte von Bernies Urgroßeltern Schmerl und Jochebed, die ein gutes Gegengewicht zu ernster Historie, mystischen Exkursen oder derben (Sex-)Szenen bildet.

Mir hat der Roman gefallen, und ich empfehle ihn Lesern, die bereit sind, sich auf eine hochinteressante, aber manchmal etwas anstrengende Lektüre einzulassen.