Zu spät für alles?

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theresia626 Avatar

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Antti Tuomainens Thriller „Der Heiler“ entführt den Leser in ein Helsinki in der nahen Zukunft. Klimaveränderungen haben die Welt in ein riesiges Chaos gestürzt. Südteile Spaniens und Italiens sind offiziell sich selbst überlassen, Bangladesch ist im Meer versunken, Indien und China führen um die Wasserreserven im Himalaja Krieg, die USA haben die Grenzen zu Mexiko geschlossen, es gibt 13 aktuelle Kriege auf dem Gebiet der Europäischen Union. Millionen und Abermillionen Klimaflüchtlinge gibt es weltweit. In Helsinki steht der U-Bahntunnel zwischen Sörnäinen und Kalasatama wegen Überflutungen unter Wasser, ganze Stadtteile sind unbewohnbar. Die Bewohner, die es sich leisten können, fliehen in bewohnbare Gegenden oder wandern nach Nordkanada aus. Die von ihnen aufgegebenen, von Schimmel befallenen feuchten Wohnungen bleiben nicht lange leer, Flüchtlinge aus dem Osten und dem Süden Europas nutzen sie als vorübergehende Unterkunft. Der Kampf ums Überleben hat begonnen.

Seit September regnet es, und in zwei Tagen ist Weihnachten. Das Leben ist schwer geworden in Helsinki. Die Schlange vor der Suppenküche ist mehrere Hundert Meter lang, es gibt nicht mehr genug zu essen, die Menschen haben ausdruckslose starre Mienen und ergeben sich schweigend ihrem Schicksal. In dieser trotzlosen Zeit vermißt der Lyriker Tapani Lehtinen seine Ehefrau Johanna. Sie arbeitet bei der letzten Zeitung des Landes und hat sich seit ihrem Außeneinsatz mit dem Fotografen Gromow weder in der Redaktion noch bei ihrem Ehemann gemeldet, was sehr ungewöhnlich ist, denn die Eheleute Tapani haben ein sehr liebevolles Verhältnis zueinander. Bei einem Gespräch mit dem Redaktionsleiter Lassi Uutala erfährt Tapani, daß seine Frau an einem Artikel über eine Person, die sich selbst „der Heiler“ nennt, arbeitet. Dieser hatte neun Manager und Politiker sowie deren Familien ermordet und sich nach dem ersten Mord per E-Mail mit Johanna in Verbindung gesetzt. Sie mußten sterben, weil er sie für die Klimaveränderungen verantwortlich gemacht hat. Tapani findet heraus, daß sich die letzte E-Mail auf Johannas Computer von den bisherigen unterscheidet. Sind es mehrere Täter, und ist Johanna einem von ihnen zu nahe gekommen? Nicht nur Johanna wird vermißt, auch von Gromow fehlt jede Spur. Tapani kontaktiert das befreundete Ehepaar Athi und Elina, die ihm auch nicht helfen können. Kriminaloberkommissar Harry Jaatinen, der sich um Vermißtenfälle wegen akutem Personalmangel nicht kümmern kann, läßt Tapani interne Informationen zukommen und der nordafrikanische Taxifahrer Hamid, der in Finnland noch die Chance für einen Neubeginn sieht, hilft Tapani bei dessen Suche und rettet ihm zweimal das Leben.

Antti Tuomainen hat einen spannenden, glaubhaften und düsteren Thriller geschrieben, der um die Weihnachtszeit, dem Fest der Liebe, spielt. Realität und Fiktion liegen hier sehr eng beieinander. Der Leser ist berührt von der tiefen Liebe des Protagonisten zu seiner Ehefrau, der nichts und niemanden jemals so geliebt hat wie sie, seiner Sehnsucht nach ihr, der Einsamkeit, die ihn ohne sie umgibt und erschüttert über die Ausmaße möglicher Klimaveränderungen. Freundschaft ist ein weiteres zentrales Thema des Thrillers. Der Autor stellt die Frage, welche Bedeutung Freundschaft in schwierigen Zeiten bekommt und ob man sich auch in der Not auf seine Freunde verlassen kann oder ob man von ihnen schon vor langer Zeit verraten wurde. Auch wenn der Ich-Erzähler Tapani kurz an der Liebe seines Lebens zweifelt, tut er doch alles, um sie zu finden, aber bei seiner Suche findet er nicht unbedingt und nicht nur das, was er gesucht hat. Ein interessanter Thriller, den ich gerne gelesen habe.