Ein großer Spaß mit kleinen Abstrichen

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Gerade weil der Roman nicht zuviel Tiefgang besitzt, war ich positiv überrascht und vergebe einen Stern mehr als bei der Leseprobe. Weichgespülte Multi-Kulti-Literatur gibt es schließlich genug.

Zum Inhalt: Eine der beiden islamischen Gemeinden einer Kleinstadt im Wahlkampf bekommt von der Zentrale ein neues Oberhaupt zugeteilt. Dieses erscheint mit Bruce Springsteen Plattensammlung und pubertierender Tochter und zeigt von Beginn an der Bürgermeisterin Frau Piepenkötter die Zähne unter dem Rauschebart. Frau Piepenkötter ihrerseits möchte wiedergewählt werden und zieht dazu sämtliche Register politischen Könnens, - unter anderem ihren Sohn, der zufällig die gleiche Klasse wie des Hodschas Töchterlein besucht. Die Scharmützel der beiden bis kurz nach dem Wahltag behandelt "Der Hodscha und die Piepenkötter".

Die Aufmachung: Erst einmal ein comicartiges Cover, welches jedem, der einen Roman mit Tiefgang erwartet, diesen Zahn ziehen sollte. Dazu ein Weichcover, welches mir sehr gut gefallen hat, da es eine bessere Griffigkeit als ein Taschenbuch bietet, aber nicht so unhandlich wie ein Hardcover ist. Bei Romanen, die nicht "für das Leben" gedacht sind, halte ich das für ein sehr gutes Mittelding. Zum guten Schluss eine zwar gewöhnungsbedürftige Schrifttype für die Kapitelüberschriften, die aber ebenfalls deutlich machte, dass man einen gern überspitzten Roman und keine auf politische Korrektheit gebürstete Erzählung vor sich hat.

Mein Eindruck: Herrlich pointiert und bösartig bedient Herr Bingül sämtliche Klischees, die der geneigte Leser von Politikern und Geistlichen mit Draht nach ganz oben hat: Die Politiker kennen im Wahlkampf weder Freunde noch Familie und scheren sich einen Dreck um ihr Geschwätz von gestern, die Geistlichen stellen dafür fast alles für ihre Liebe zu Gott oder Allah zurück - außer vielleicht Bruce Springsteen - und kennen in ihrem Eifer höchstens die Grenzen, die ihnen von ganz oben aufgezwungen werden. Dazu bekommen noch Hausfrauen, Teenager, Schmierlappen mit Hasspredigerhintergrund und Journalisten ihr Fett weg: Jeder taktiert so gut er kann, um für sich das meiste herauszuholen, gerne auch bei konspirativen Treffen oder im Pakt mit dem Feind des Feindes. Durch die vielen Versuche des gegenseitigen Beinchenstellens und der Kürze der Zeit durch das Nahen des Wahltages blieb die Spannung immer gewahrt - langatmige Teilstücke konnte es nicht geben.

Schön auch die Zwiegespräche mit Allah - bei Don Camillo abgeguckt oder nicht - die den Hodscha immer wieder auf Kurs brachten, den er vor lauter Engstirnigkeit gerne einmal vergessen wollte.

Auch wenn das gemäßigte Happyend (es kann ja bei den unterschiedlichen Voraussetzungen kein Hosianna für alle geben) natürlich voraussehbar ist, habe ich mich auf dem Weg dorthin köstlich amüsiert. Aber kleine Abstriche muss ich dennoch machen: Mir trank Frau Piepenkötter viel zu viel Rotwein und der Hodscha benutzte schlagende Argumente, mit denen ich mich unter keinen Umständen anfreunden will.

Fazit: Ein wunderbar ironisches Buch über zwei Streithähne auf ihrem Weg zur Glückseligkeit mit kleinen Abzügen in der B-Note. Vier Sterne.