Äußerst fesselnd, aber nichts für schwache Nerven!

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nordlicht Avatar

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Inhalt und Beurteilung
„Der Horror der frühen Chirurgie“ beschäftigt sich mit einer besonderen medizinischen Disziplin, der plastischen Chirurgie. Diese Disziplin, in unseren Zeiten von vielen Menschen als „Schönheitschirurgie“ genutzt, entstand vor dem Hintergrund der Gräuel des Ersten Weltkriegs. In diesem Krieg kam es aufgrund neuartiger Waffen zu besonders schrecklichen Verletzungen der Soldaten, viele von ihnen erlitten durch Schüsse oder Granatsplitter fürchterliche Gesichtsverletzungen. Kugeln durchschlugen Wangen oder ganze Unterkiefer wurden herausgerissen. Nicht selten lagen schwerverletzte Soldaten tagelang im Schlamm der Schlachtfelder, bis jemand bemerkte, dass noch Leben in ihnen war. Dann wurden sie ins Feldlazarett transportiert und die Ärzte gaben ihr Bestes, was oft nur darin bestand, Wunden zu säubern und notdürftig zusammenzuziehen, was Vernarbungen und Inflexibilität des Gewebes zur Folge hatte, vom abstoßenden Äußeren der entstellten Männer ganz zu schweigen.
Dr. Harold Gillies (1882 – 1960) wollte sich mit dem Schicksal dieser unglücklichen Menschen nicht abfinden und ihnen – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Gesicht geben. Es war sein erklärtes Ziel, die Soldaten wieder soweit herzustellen, dass sie wieder „funktional“ wurden (Nahrungsaufnahme, Sprache) und dass sie ein Äußeres bekamen, mit dem sie wieder unter die Menschen gehen konnten.
Die plastische Chirurgie steckte noch in den Kinderschuhen. Erst seit der Einführung der Anästhesie Mitte des 19. Jahrhunderts waren überhaupt längere Operationen ermöglicht worden. Doch Infektionen stellten immer noch eine große Gefahr dar – Wunden wurden seit Einführung der Antisepsis zwar desinfiziert, aber es gab noch keine Antibiotika. Trotz dieser Widrigkeiten forschte und experimentierte Gillies unermüdlich mit Hauttransplantationen, Dehnung von Kieferknochen durch Schrauben etc. Dabei kooperierte er mit anderen Medizinern, von deren Kenntnissen er profitierte, wie z.B. dem Zahnarzt Auguste Charles Valadier, der in seinem Rolls Royce eine mobile Zahnarztpraxis betrieb und zahllose verletzte Soldaten behandelte.
Im Queen´s Hospital in Sidcup operierte Gillies unzählige Patienten, denen er nicht nur mit großem fachlichen Können, sondern auch mit viel Einfühlsamkeit und menschlicher Wärme begegnete.


Die Autorin schildert die Schlachten des Ersten Weltkriegs und deren entsetzliche Folgen so anschaulich und eindrücklich, dass das Buch als Plädoyer gegen den Krieg verstanden werden kann und die Lektüre manchmal kaum zu ertragen ist. In diesem Kontext stellt sie einige Mediziner, darunter herausragend Dr. Harold Gillies, vor, die angesichts aller Widrigkeiten und Rückschläge nie aufgaben, vom Wunsch getrieben, den schwerverletzten Soldaten zumindest einen Teil ihrer Lebensqualität zurückzugeben. Die medizinischen Details, z.B. die Anlage eines Rundstiellappens zur Gewinnung von Haut zur Eigentransplantation, werden überaus detailliert und kenntnisreich beschrieben. Hier ist es ein wenig zu bedauern, dass die deutsche Ausgabe keine Illustrationen von OP-Techniken und Fotos der behandelten Soldaten vor und nach ihren Eingriffen enthält.
Im Epilog des auch für den medizinischen Laien verständlich geschriebenen, anschaulichen Sachbuchs geht Lindsey Fitzharris noch auf die Tätigkeiten von Harold Gillies nach Kriegsende ein, als er eine Praxis für plastische Chirurgie eröffnete und nicht nur durch Unfälle und Krankheiten entstellte Menschen, sondern auch gesunde Patienten mit (selbst empfundenen) „Schönheitsmängeln behandelte.

Fazit
Ein fesselndes, aber angesichts der anschaulichen Schilderungen nicht immer leicht verdauliches Sachbuch über die Frühzeit der plastischen Chirurgie – äußerst lesenswert!
4,5 Sterne