Spannender Einstieg in die Medizingeschichte

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marialein Avatar

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"Der Horror der frühen Medizin" beschreibt, wie sich die Medizin ab der Mitte des 19. Jahrhunderts gewandelt hat: Da wäre zum einen die Entdeckung der Äther-Narkose, die zum ersten Mal eine schmerzfreie Behandlung ermöglichte. Die zweite Revolution der Medizingeschichte war Joseph Listers Kampf gegen Infektionskrankheiten.

Dass die hygienischen Zustände damals katastrophal waren, ist allgemein bekannt, allerdings stellt Lindsey Fitzharris diese sehr detailliert und anschaulich dar und lässt dabei auch Zeitzeugen zu Wort kommen. Dabei beschreibt sie nicht nur die katastrophale Lage aus medizinischer Sicht, sondern malt auch ein sehr anschauliches Bild von der Gesellschaft sowie den Schauplätzen, an denen das Geschehen jeweils spielt: hauptsächlich London, Glasgow und Edinburgh. So kann man sich gut in die damalige Zeit hineinversetzen und erfährt dabei sehr viel Wissenswertes über die Geschichte der Medizin.

Tatsächlich ist die ganze Geschichte, wie Joseph Lister an den Ursachen für die Infektionskrankheiten forscht, die die Krankenhäuser der damaligen Zeit zu regelrechten Todeshäusern machten, unheimlich faszinierend. Man ist beeindruckt, wie überzeugt Lister an seinen Auffassungen festhält, obwohl er sich immer wieder gegen Anfeindungen von anderen Medizinern zur Wehr setzen muss. Wie froh wir doch sein können, dass er seine Sache trotz aller Hindernisse durchgezogen hat!

Andererseits ist es auch deprimierend zu denken, wie viele qualvolle Tode hätten verhindert werden können, wenn die Ärzteschaft im Allgemeinen damals nicht so entschieden die Augen vor dem verschlossen hätte, was doch aus heutiger Sicht so nachvollziehbar und eindeutig erscheint. So ist auch die Geschichte von Ignaz Semmelweis, der ob der fehlenden Einsicht seiner Arztkollegen den Verstand verlor und sie – nicht ganz zu Unrecht – als Mörder bezeichnete, ein trauriges Beispiel für die Ignoranz, die in der damaligen Zeit herrschte.

Dennoch hält sich die Autorin mit Urteilen weitestgehend zurück und gibt immer wieder zu bedenken, wie schwer es Listers Zeitgenossen fiel, anhand des damaligen Kenntnisstandes derartige neue Vorstellungen hinzunehmen. Abgesehen davon, dass sie dann natürlich auch einen Fehler in ihrer bisherigen Vorgehensweise hätten eingestehen müssen.

Überhaupt muss man sagen, dass Lindsey Fitzharris der Spagat zwischen den Extremen, in die so ein Buch allzu leicht verfallen könnte, sehr gut gelingt: Das Beschriebene ist äußerst unterhaltsam und bildhaft ohne jemals ins Makabre abzuschweifen. Es spart weder an Details noch an anschaulichen Beschreibungen, ist aber zugleich sehr kurzweilig und mit gerade mal 276 Seiten aufs Wesentliche reduziert. Auf Fußnoten wird verzichtet und medizinische Begriffe werden nur kurz erläutert, dennoch kann man das Gelesene auch als Laie sehr gut nachvollziehen.

Das Werk lässt einen mit dem Gefühl zurück, dass wir uns wirklich glücklich schätzen können, in der heutigen Zeit zu leben. Nicht nur die medizinische Versorgung, sondern die Lebensverhältnisse allgemein sind meilenweit von Listers Zeiten entfernt. Unsere Welt ist sauberer, gerechter und gesünder geworden. Und hoffentlich wird es noch andere Menschen wie Lister geben, die auch an den heutigen Zuständen noch etwas ändern. Trotz all der Schrecken, die Fitzharris beschreibt, stimmt einen das Buch doch irgendwie optimistisch.