Ermittlungen in Trümmerlandschaft

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In "Der Hunger der Lebenden" lässt Beate Sauer ihre Romanfigur Friederike Mathée zwischen Trümmern und Schwarzmarkt ermitteln. Mathée, als behütete Tochter ostpreußischer Gutsbesitzer mit hugenottischen Vorfahren aufgewachsen, arbeitet im Köln des Jahres 1947 bei der Weiblichen Polizei. An die Stelle des Gutes und der Familienvilla in Königsberg ist eine Nissenhütte in einer Schrebergartensiedlung geworden, die Träume von einem Studium an der Kunstakademie ausgesetzt und Hunger ein täglicher Begleiter. Eigentlich erscheint die junge Frau zu zartbesaitet für den Beruf einer Polizistin - und vor Vorgesetzten strammstehen zu müssen, fällt der höheren Tochter auch nicht gerade leicht.

Der Fall einer ermordeten Gutsbesitzerin bringt Friederike Mathée ins Bergische Land, denn die Tatverdächtige ist eine junge Frau, vorbestraft als "Streunerin", und stark verwahrlost. Doch Mathée glaubt nicht an die Schuld der 21-jährigen, auch wenn sie mit der Tatwaffe in der Hand festgenommen wurde. Als sich herausstellt, dass das Mordopfer, dessen Ehemann in Russland vermisst wird, schwanger war und vor kurzem entbunden hatte, fragt sich die junge Polizisten, ob womöglich jemand anders ein viel nachvollziehbareres Tatmotiv hatte.

Während ihre Vorgesetzten Mathées Theorien für Hirngespinste halten, versucht die junge Polizistin vorsichtig eigene Ermittlungen. Dann kommt Richard Davis nach Köln zurück, ein britischer Militärpolizist, den sie von einem vorangegangenen Fall kennt und in den sie sich damals verliebt hatte. Auch er fühlt sich zu ihr hingezogen, doch zugleich steht die jüngste Vergangenheit zwischen ihnen: Richard wurde in Deutschland geboren, entging dank eines Kindertransports nach Großbritannien dem Holocaust. Alle seine Angehörigen wurden ermordet. Kann er tatsächlich eine Beziehung mit einer Deutschen eingehen?

Als Polizist hingegen unterstützt er Friederike und benötigt sie wiederum für seinen eigenen Fall: Wer ist schuld an der Ermorung dreier britischer Kampfflieger, die 1944 abgeschossen wurden? Gibt es zwischen den beiden Fällen womöglich Verbindungen? Und wer ist der Fremde mit der Fratze, den Kinder in der Nähe des Gutshofs zu sehen glaubten?

Stellenweise wie ein Liebesroman geschrieben, ist "Der Hunger der Lebenden" zwar einerseits spannende Unterhaltung, rührt aber zugleich an die deutsche Kriegs- und Nachkriegszeit, fragt nach Schuld und Verantwortung, nach Aufarbeitung und Verschweigen von Schuld. Allerdings wird über weite Strecken hinweg nur zaghaft aufgeräumt mit dem Mythos der "sauberen" Wehrmacht, die nichts mit den Verbrechen der SS zu tun hatte. Und auch wenn von "streunenden" Displaced Persons die Rede ist, die Gehöfte überfallen, bleibt die Vergangenheit dieser entwurzelten Menschen als ehemalige Zwangsarbeiter oder KZ-Häftlinge ausgespart, die vieles von ihrem Verhalten erklären würde.

Die Atmosphäre des zerstörten Köln, der Menschen, die nach den Kriegsjahren nicht zurückblicken, sondern ihr Lebens wieder aufbauen wollen, der Hunger nach Normalität gehören für mich zu den Stärken des Buches, das so ebenso historischer Roman wie Krimi ist. Die Liebesgeschichte hätte es meiner Meinung nach zwar kaum gebraucht, da so eher ein wenig Kitsch Einzug hält, aber womöglich gefällt das gerade den Lesern, für die "Der Hunger der Lebenden" sonst zu viel Trümmer-Tristesse wäre. Insgesamt gelungene spannende Unterhaltung.