Vulkane und Vaterfiguren - und noch 100 weitere Themen

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angie99 Avatar

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Für diesen Roman hat sich Moritz Rinke ein besonderes Plätzchen Erde ausgesucht; Er spielt auf Lanzarote, der „Insel der 100 Vulkane“.
Hier lebt Pedro, ein nostalgisch angehauchter, leicht verträumter Briefträger, mit Partnerin Carlota und Sohn Miguel. Obwohl er immer weniger Briefe auszutragen hat, tuckert er fleißig mit seiner Honda über die Insel, um weiterhin Tankbelege zu sammeln und damit seinen Job zu sichern.
Die Leserschaft begleitet ihn auf seinen verschiedenen Runden, die so hochtrabende Namen wie Café-con-leche-Route, Europaroute, Nudistenroute und Nobelpreisroute tragen, und lernt so die faszinierende Landschaft Lanzarotes auf eine solch charmante Art kennen, dass das Fernweh vorprogrammiert ist!

Die vulkanische Natur dient jedoch nicht nur als malerische Kulisse, sondern vermag sogar alltäglichen Begebenheiten zu erklären: „Sein Vater hatte eigentlich immer nur von Lavaehen und Lavafrauen gesprochen. Bei Blocklavafrauen strömten nach dem Ausbrauch die Worte und Vorwürfe, die Drohungen und Anklagen angeblich wie etwas Dick- und Zähflüssiges heraus und erstarrten zu rauen, scharfkantigen Brocken. Wenn bei den Explosionen Leidenschaften wie riesige Lavafetzen duch die Luft flogen und sich beim Flug verformten, entstanden riesige Blockbomben. Sein Vater sprach von Blockbomben vor allem im Zusammenhang mit Trennungen und Scheidungen.“ (S. 20)

Pedro führt ein soweit beschauliches Leben, fährt seine Routen, bietet der von Touristenströmen gestressten Carlota Aspirin an, bringt seinen fußballbegeisterten Miguel zur Schule und holt ihn von dort wieder ab. Rinke erzählt davon warmherzig und immer einer Prise Witz. „Müsst ihr heute in der Schule wieder Opfergaben für die Jungfrau von Dolores basteln? Fragte er als Miguel aus dem Badezimmer gekommen war. „Ja, sagte sein Sohn. Freust du dich darauf? Nein. (…) Wir basteln immer nur Holzkreuze für die Jungfrau, antwortete Miguel. Warum hat denn die Lava vor ihr gestoppt und nicht vor dem Hirtenmädchen, das bei den historischen Vulkanausbrüchen gestorben ist?“ S.90

Die auf dem Klappentext angekündigte Story entwickelt sich hingegen nur schleppend. Auf Seite 122 wird Pedro von Carlota und Miguel verlassen, wobei der Verlust seines Minimessis offenbar der schlimmere ist. Dass nicht nur alle seine Briefe ungeöffnet zurückkommen, sondern nun auch das Weihnachtspaket, stürzt Pedro in eine große Krise – bis ihn eine wunderbare Idee aus dem Tief rettet. Doch bis zu ihrer Umsetzung trifft er sich mit dem Pfarrer vor der Krippe, entdeckt ein mysteriöses Schild auf der Unterseite des Schreibtischs, loggt sich bei loveawake.com ein, öffnet Vaters geheime Kiste mit den nicht zugestellten Briefen, erstellt eine Liste mit den berühmtesten Postboten (1. Abraham Lincoln 2. Walt Disney 3. Conrad Hilton…) und liest in „Die Stadt der Blinden“ – alles irgendwie interessant zu lesen, aber nichts, was die Handlung vorantreiben würde.
Der Erzählfluss kommt so sehr ins Stocken wie erkaltende Lava.
Tatsächlich ließ ich das Buch, bei Seite 150 angekommen, eine ganze Weile komplett unangetastet, so sehr hatten mich Pedros Gedanken und die vielen angeschnittenen Themen ermüdet.

Obwohl ich mich nach meinem Wiedereinstieg flott durch den Roman durchlese, merke ich, dass sich dieses Problem durch das gesamte Buch zieht: Einerseits ist es beeindruckend, wie viele interessante Zusammenhänge der Autor zieht. Tektonische Platten und Atlantis, Flüchtlingsschlepper und Tomatenanbau, Thunfisch in Japan und deutsche Bomber in Spanien, Fußballclubs und Väter, die @-Taste und Sendungsmengen des EU-Briefverkehrs, esoterische Weltansichten und ein Erneuerer des Islams – all dies findet in diesem Buch seinen Eingang und ist auf erstaunliche Weise irgendwie miteinander verknüpft. Allerdings tragen sie zum eigentlichen Fortgang der Erzählung teilweise nichts bei und wirken in ihrer Vielzahl irgendwann nur noch erschlagend.

Ich persönlich hatte mir vorgestellt, dass es in diesem Buch in erster Linie um den längsten Tag unseres Hauptprotagonisten geht, eine Art „Heldenreise in 24 h“. Doch dieser längste Tag wird schließlich auf 30 Seiten abgehandelt. Und anders als angedeutet machen sich die drei Männer Pedro, Tenaro und Armado nicht zusammen auf diese Reise. Hier werden meines Erachtens falsche Erwartungen aufgebaut.

Was die Handlung dieses Romans angeht, wäre ich bei 3 Sternen gelandet. Doch ich muss zugeben, dass mich die Geschichte um Pedro Fernández García und seine Kumpane trotz seiner dramaturgischen Schwächen berührt und unterhalten hat.
Rinke zeichnet seine Charaktere mit so viel Ecken und Kanten, Charme und Liebenswürdigkeit, dass einem ganz warm ums Herz wird. Er zeigt auf, dass es sich lohnt, mutig zu sein. „Sieh dich in der Welt um, die Gleichgültigkeit ist die gefährlichste Form der Rohheit, ohne sie würde die Menschheit viel weiter kommen“, hatte Amado gesagt. Und dass man überall damit anfangen könne, die Gleichgültigkeit zu besiegen. (S. 279)
Ein Happy End, das nicht allzu kitschig geraten ist, entlässt die Leserschaft mit dem guten Gefühl, dass man mit treuen Freunden, einer Portion Selbstironie und Risiko sein eigenes Glück ein Stück weit selbst in die Hand nehmen kann.