Mahlers Reise

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singstar72 Avatar

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Endlich wage ich mich einmal an ein Werk von Robert Seethaler! Er ist ja nun wirklich in aller Munde. Verschiedene Lesefreunde haben vom „Trafikant“ geschwärmt, und auch sein bisher letztes Buch, „Das Feld“, zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Ausserdem empfinde ich das als sehr passend: ein großer Österreicher (Robert Seethaler) schreibt über einen noch größeren Österreicher (eben Gustav Mahler). Das kann ja kaum schief gehen.

Zuerst fand ich die Leseprobe ein wenig kurz. Doch dann wurde mir bewusst, dass ja das ganze Buch, vielmehr das Büchlein, nicht lang ist – gerade mal 128 Seiten. Zudem habe ich die Leseprobe zweimal gelesen, und dabei festgestellt, dass der Stil sehr poetisch und „dicht“ geschrieben ist. Von „zu kurz“ kann also keine Rede sein.

Allerdings ist das Buch wohl kein Roman im eigentlichen Sinne. Eher eine poetische Momentaufnahme. Mahler befindet sich auf seiner letzten Reise von New York nach Europa. An Deck eines Dampfers lässt er sein Leben Revue passieren. Immer wieder driftet er ab in Erinnerungen. Dabei entstehen Stimmungen und Bilder, die gerade in ihrer Bruchstückhaftigkeit viel von seinem Charakter verraten.

Mahler wirkt weniger als eine handelnde Person in seinem eigenen Leben – eher wie eine Art Spielball, der sich verschiedenen Kräften ausgesetzt sieht. Die Natur ist eine solche alles verschlingende Kraft. Gewitter, Vogelgezwitscher und Regen werden sehr unmittelbar geschildert. Tiere empfindet Mahler als zwar grundsätzlich wesensverwandt, aber doch fremd.

Die zweite große Naturgewalt in seinem Leben ist die Musik. Sie „passiert“ ihm einfach. Er versteht sich als Arbeiter, der diese Urkraft ergründen muss. Die Natur liefert ihm Motive und Anregungen; er muss sie „nur“ aufschreiben. Seethaler muss hier hervorragend recherchiert haben. Ich fand es ausgesprochen beeindruckend, wie er den Schaffensprozess schildert! Mitten in einem Migräneanfall aufzuspringen, und dann stundenlang wie im Fieber zu schreiben – so stellt man sich einen Künstler vor!

Die dritte „Gewalt“ im Leben Mahlers ist sein eigener Körper. Ständig fühlt sich Mahler ihm ausgeliefert. Sei es durch Migräne, durch Schwäche oder Schwindel. Auf der Schiffsreise, welche die Rahmenhandlung bildet, haben zudem sein Seh- und Riechvermögen sehr gelitten. Ausserdem wissen wir Leser durch einen kurzen Rückblick in seine Kindheit, dass er wohl schon immer an überspannten Nerven gelitten haben muss. Als Kind hatte er einmal mitten in der Synagoge eine Art „Anfall“.

Auch das Verhältnis Mahlers zu Frauen scheint fragwürdig. Er vergöttert zwar seine Alma, scheint sie aber kaum zu verstehen. Er lässt sie beim Abendessen warten, empfiehlt ihr Bücher, die ihr nicht gefallen, und redet weiter, obwohl sie bereits eingeschlafen ist! Hier bin ich sehr gespannt. Denn diese Alma ist ja auch gewissermaßen berühmt. Es ist doch dieselbe Frau, die später (oder früher??) mit Klimt liiert ist/war??

Ich bin immer noch erstaunt. Dieser Seethaler ist selber ein wahrer Künstler. Er lässt ein „Bild“ entstehen. Eine Persönlichkeit wird vor des Lesers Augen lebendig. Wahrhaftig, selbst wenn ich das Buch nicht gewinne – ich glaube, ich würde es mir kaufen.